Die Freuden der Jagd

16. November 2010

••• Am vorletzten Sonntag war ich in Karlsruhe zu Gast auf dem 5. Adam Seide Literaturtag. Der Literaturtag widmet sich seit 2005 jährlich der »experimentellen« Literatur, wobei der Veranstalter selbst das »experimentell« unterdessen in Gänsefüßchen setzt. Was gemeint ist, lässt sich am ehesten mit den englischen Begriff »advanced« umschreiben. Sprachexperimente gehören dazu, aber ebenso ungewöhnliche Formen des Erzählens und ungewöhnliche Varianten der literarischen Verarbeitung.

Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich auf diesem Weg zwei Autoren persönlich kennenlernen konnte, die mir bislang noch unbekannt waren. Svenja Leiber las aus ihrem Roman »Schipino«, in dem einer der Protagonisten »in den Wald geht«, genauer: in ein russisches Dorf. Schipino, das sind vier Datschen in der Nähe einer maroden Kolchose. Eine Handvoll Menschen, ein Klavier und ein Gasherd auf einem Hügel mitten im Wald, umringt von Sümpfen und Seen. Der Deutsche Jan Riba flüchtet sich dorthin, um sich wiederzufinden. Lilja, die er dort trifft, hat sich hingegen seit Jahren gemüht, sich zu verlieren, zu vergessen. Nur das Vergessen gibt ihr genügend Stabilität, um am Leben zu bleiben. Und so bedeutet das Erinnern, das mit dem Erscheinen des Gastes einsetzt, ihren langsam voranschreitenden Tod…

Da die »Die Leinwand« um die Themen Erinnerung und Vergessen und deren Auswirkungen auf das Identitätsbewusstsein kreist, bildete sie so etwas wie eine Brücke zwischen dem Roman von Svenja Leiber und dem dritten Werk, das an diesem Tag vorgestellt wurde. Die Rede ist von den »Freuden der Jagd«, ein Opus Magnum von über 1.000 überbreiten Seiten. Ulrich Schlotmann variiert in diesem ungewöhnlichen ausufernden Text ein vermeintlich überschaubares Thema: Ein Mann geht in den Wald.

Auf der Flucht vor einer immer komplexer, immer unverständlicher werdenden Welt begibt sich ein Mann in den Wald, direkt auf das Terrain einfacher Wahrheiten und altbewährter, fundamentalistischer – sprich: sexistischer, rassistischer und religiöser Positionen. Sein Weg zum finsteren Herzen des Waldes, da er mit sich und der Welt in Einklang zu leben hofft, entwickelt sich immer mehr zum Höllentrip in die Abgründe der menschlichen Seele. Links und rechts des Weges harren seiner Abenteuer von manchmal märchenhaften, manchmal mythischen, selten banalen Ausprägungen. Philosophische Überlegungen, etwa die Praxis der Jagd betreffend, sind ihm Mittel zur Erbauung, doch über den Umweg der Sprache, in die er seine Gedanken zu kleiden versucht, hält der zersetzende Virus der Komplexität wieder Einzug in seinen Geist und zieht ihm vollends den Boden unter den Füßen weg. Orientierungslos in einer fragmentierten Welt wird er wohl noch ewig und drei Tage lang im Kreis herumwandern müssen, ohne jede Aussicht auf Erlösung, ohne die kleinste Verschnaufpause, ohne Halt …

Christiane Zintzen hat bei Erscheinen dieses außergewöhnlichen Buches bereits auf Schlotmann hingewiesen. Doch leider ist mir dieser Tipp damals (wie ja immer wieder so vieles) entgangen.

Erzählen im Sinne des altehrwürdigen Romans, das ist nicht Schlotmanns Sache. Er kann, räumt er im Gespräch nach der Lesung ein, nicht verstehen, wie jemand heute noch so schreiben (vulgo: erzählen) könne. Seine Prosa steht in der Traditionslinie des »stream of conciousness«. Der Fokus ist weniger (ich sage wohlbedacht nicht »gar nicht«!) ein poetischer. Schlotmann blendet hinein in den Gedankenstrom seines Protagonisten, und das ergibt naturgemäß eine gehörige Dosis Geschwätz. (Der ungeheure Umfang des Werkes ist auch damit zu erklären.) Durch satztechnische Kunstgriffe, eine Handvoll Formatierungsmöglichkeiten, seziert Schlotmann im Fließen den Sprachstrom.

Da wären zunächst

(die) Klammern (zu nennen). Das kann man sich (vielleicht) denken: dass, was in Klammern geschrieben, nicht (eben) erheblich — ja: auf in Klammern geschriebene Wörter ließe sich (wohl) bedenkenlos / & ohne — (jeden) nennenswerten — Informationsverlust verzichten, hätten sie nicht eine — (ganz) veritable — Funktion im Hinblick auf den Rhythmus des Textes […]

Änlich steht es um die Unterstreichungen, bei denen es sich um Satzteile handelt, die sich

neben ihrer Überflüssigkeit — (auch) noch — durch den Umstand auszeichnen, dass sie einen (eher) floskelhaften / (beinah) schon — in Richtung Redewendung (ab)gehenden Charakter haben […]

Kursive Elemente sind in der Regel Zitate. Die Schrägstriche erfüllen die Funktion des Kommas, wobei der Autor jedoch reklamiert, dass sie den Text »beschleunigen« würden. Fett ist fett. Solche Notierungen

erklären sich dem (verständigen) Leser (wohl) von selbst / & (ganz) allein.

Darüber hinaus verwendet Schlotmann (angeblich bis zu sieben) Verschachtelungsebenen der wörtlichen Rede, da sich in den Strom des Textes zunehmend fremde Stimmen mischen. Die wörtliche Rede gibt also Stimmen von außen wieder.

Das Ganze könnte ein kapitaler Blödsinn sein, wäre hier nicht ein wirklicher Könner am Werk. Man lasse sich ein auf dieses Experiment und lasse sich fangen. Schlotmann liest diesen Text auch ungemein gekonnt, in einem unverwechselbaren Sound.

Ob man (und ich im Speziellen, ha! Klammern!) wirklich über 1.000 Seiten über die Fragen des »in den Wald Gehens« lesen muss oder nur könnte, ist eine andere Frage. Aber ich glaube, das Monumentale, also der schiere Umfang, gehört unbedingt mit zur Idee dieses Werkes. Ein Bach hätte nicht genügt; es musste schon ein wirklicher Strom sein.

Angeordnet sind die Kapitel übrigens nicht thematisch sondern nach Länge. Die kürzeren Kapitel stehen am Anfang, so dass man nach und nach an Sprache und Thema herangeführt wird, um dann – mit gewachsener Lesemeisterschaft – in den Strudel der überbordenden längeren Kapitel geworfen zu werden.

Über 10 Jahre hat Schlotmann an diesem Opus Magnum gearbeitet, wieder und wieder geschliffen, überarbeitet, umgesetzt, eine Wahnsinnsarbeit für einen Wahnsinnstext. Von Kritik und (in Folge dem [noch ne Klammer, argh!]) Publikum wurden »Die Freuden der Jagd« seit Erscheinen 2009 bei Urs Engler sträflich ignoriert. Das ist mehr als schade, und ich hoffe, dass der eine oder andere Turmsegler nun den Versuch wagen und sich auf Schlotmanns Werk einlassen wird.

Hier zum Anfüttern und zur Illustration ein kleiner Auszug.

 

Aber etwas stimmt hier (doch) – ganz/& gar – nicht – „merkt das (denn) niemand (außer mir)?“ Dieser Mann ist (definitiv) – „mehr als – offensichtlich wird das itzt/(just) in diesem Augenblick“ – nicht der Mann, den wir (doch) alle kannten/(schon) seit Jahren zu kennen geglaubt hatten – „in der Tat: ich bin es (wirklich) nicht, einverstanden.“ Es ist (irgend)jemand anderes, der ihm – zugegebenermaßen – „auf den ersten Blick“ – (recht) ähnlich sieht – „zum Verwechseln ähnlich (sogar) sehen mag – doch: bin ich es – nun mal – nicht – (ein)verstanden?!“ Kein Mensch ändert sich – (derart) grundlegend – über Nacht – „nicht: von einem Augenblick/auf den anderen“ – das ist (schlicht) nicht möglich – anders ausgedrückt: ein Unding. „Oder spiele ich“ – frage er sich (unwillkürlich) – „(etwa) in einer Bodyswitchkomödie mit & weiß es nicht (einmal)?“ Der (typisch) feste Schritt – „(nur) ein Beispiel (von vielen)“ – der ihm (doch) – „nicht zu Unrecht (wohl)“ – nachgesagt & den man – „(durchaus) treffend“ – (auch) als raumgreifend beschrieb – er wich einem (müden) Schlurfen/(ganterhaften) Watscheln – nach/& nach – „sorryaber: das macht/muss einen Mann mit (wachem) Verstand (doch) stutzig machen, (oder) etwa nicht?“ Der einst ungetrübte Blick ist (nun) wie von Schlieren verhangen, die positive Energie, die ihn (sonst) – im Innern – antrieb – „(eigentlich) mein Marken-/& Erkennungszeichen“ – nun: scheint sie negativ geladen (zu sein). War (doch) so ein Kerl/solch ein Bild von einem Mann, dem die Damen, wenn sie ihn (denn) im Gegenlicht dampfen/(rasch) näher kommen sahen, zu Hunderten/& Aberhunderten am Wegesrand zu Füßen sanken, ihm einen zu blasen – nun (aber) das: saft-/& kraftlos – „(maximal) halb der Mann, der ich (einst) war – ein Schatten/(schwacher) Widerhall meiner selbst – nur (noch)“ – abgetakelt – wie gesagt: falls es sich (hier) nicht um eine Verwechselung, sondern (tatsächlich) um ein/& dieselbe Person – (ganz) konkret: um (eben) jenen Mann handelt, den wir alle – „(und) nicht bloß: die Damen“ – ins Herz/jeden Abend – „den Gott, der Herr, ließ werden“ – in unser Gebet (mit) eingeschlossen haben – und nicht: um (irgend)einen (anderen/x-beliebigen) Handlungsreisenden in (Sachen) Galanteriewaren (etwa) – „Artikel, der Ehehygiene (angeblich) dienlich“ – der für diese (verblüffende) Ähnlichkeit vielleicht (gar) nicht könnte – „am (aller)wenigsten (womöglich) eine – (auch nur) halbwegs – plausible Erklärung (dafür) parat hätte (…).“

© Ulrich Schlotmann
aus: »Die Freuden der Jagd«
Urs Engeler Editor 2009

Auf litradio.net kann man sich einen Höreindruck von Schlotmanns Prosa verschaffen. Ebenfalls dort: ein Gespräch, das Ulrike Janssen mit dem Autor führte. Eine weitere Hörprobe ist auf 3durch2.de zu finden.

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Eine Reaktion zu “Die Freuden der Jagd”

  1. Tukan-Preis 2010 für »Die Leinwand« « Turmsegler

    […] sie mehrfach ausgezeichnet.Und nicht weniger freut mich, dass Helmut Bieler-Wendt, der auf dem 5. Adam Seide Literaturtag in Karlsruhe für die musikalische Umrahmung zuständig war, spontan zugesagt hat, auch bei […]

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