••• Der Rambam hat eine »Marotte«: Er macht bei Zitaten keine genauen Quellenangaben. Man kann aus der Redewendung schließen, ob das Zitat aus der Torah oder der Gemara stammt, das war es aber auch schon. Mitunter erkennt man gar nicht, dass er zitiert. Und so verhält es sich bspw. mit dem ersten Paragraphen des dritten »Edut«-Kapitels.
אחד דיני ממונות ואחד דיני נפשות בדרישה וחקירה שנאמר משפט אחד יהיה לכם אבל אמרו חכמים כדי שלא תנעול דלת בפני לוין אין עדי ממון צריכין דרישה וחקירה
Das heißt:
Derishot und Chakirot sind erforderlich sowohl in Verfahren über Geldangelegenheiten (dinei mamanot) als auch in Verfahren zu Kapitalverbrechen (dinei nefashot), wie es heißt: »Ein Gesetz soll Dir gelten…« Dennoch haben die Weisen festgelegt, dass Zeugen in Verfahren des Finanzrechts nicht den Chakirot und Derishot ausgesetzt werden, da dies dazu führen würde, dass sich die Tür (der Darlehen) verschließt.
Das will erst einmal verdaut sein, bevor man sich den übrigen 11 Paragraphen dieses Kapitels zuwendet, die es nicht weniger in sich haben. Man muss diesem Paragraphen sogar genau nachforschen, weil ansonsten unklar bleibt, warum der Rambam in diesem Kapitel die Themen so strukturiert, wie er es tut. Er folgt dabei nämlich einer Gemara-Diskussion. Der erste Satz ist zitiert aus der Mishna zu Beginn des Kapitels 4 im Traktat Sanhedrin (Folio 32a).
Das kenntliche Zitat stammt aus Levitikus 24:22. Die Weisen lernen aus diesem Vers, dass Gerichtsverfahren einheitlich ablaufen müssen, und zwar unabhängig davon, worum es sich handelt. Wenn sich die Weisen hier aber auf die Torah berufen, wie können sie dann im nächsten Zug diese Anweisung der Torah aufweichen, indem sie für dinei mamanot die Chakirot und Derishot nicht vorschreiben?! – Ich war nicht der erste, der sich diese Frage gestellt hat.
Die Gemara in Sanhedrin 32a stürzt sich denn auch sofort auf diese Aussage. Und wie es im Talmud nun mal zugeht: Falsch kann die überlieferte Aussage nicht sein. Also verstehen wir sie offenbar lediglich anders, als sie gemeint war. Wie aber war sie gemeint?
Ich möchte hier diese Gemara zitieren, weil sie mir sehr gefällt und weil man viel daraus lernen kann, wie sich die großen Rabbiner hier fetzen. Die Gemara ist oft in einer Art Telegrammstil verfasst. Ich übersetze daher nicht wortwörtlich, sondern »erklärend«.
Sind Chakirot und Derishot in dinei mamanot tatsächlich erforderlich? Vergleiche diese Aussage mit der folgenden Überlieferung: Gäbe es einen Vertrag (bezeugtes Dokument) dessen Ausstellungsdatum auf den ersten Nissan des Shmitta-Jahres lautet und die Zeugen kämen vor Gericht und würden (über jene, die das Dokument unterzeichnet haben) aussagen: »Wie kannst Du für diesen Vertrag Zeuge sein, da du doch an genau diesem Tag dort und dort mit uns gewesen bist?!« Das Dokument ist dennoch gültig und die Zeugen gültig. Wir nehmen an, dass die Zeugen womöglich das Dokument verspätet aufgesetzt haben.
Nun: Wenn du denkst, dass Zeugen selbst im Fall von dinei mamanot der Prozedur von Chakirot und Derishot ausgesetzt werden müssen [um ggf. eine Basis für eine Hazamah zu haben] – wie können wir dann (das widersprüchliche Zeugnis akzeptieren und) vermuten, sie hätten lediglich gezögert und das Dokument später geschrieben? Und gemäß deiner Erklärung [übrigens] müsste folgende andere Mishna ebenso problematisch sein, [in der es heißt]: Rückdatierte Schuldverschreibungen sind ungültig, vordatierte hingegen gültig. Wenn aber deiner Meinung nach Zeugen selbst im Fall von dinei mamanot der Prozedur von Chakirot und Derishot ausgesetzt werden müssen [also den Ort und die genaue Zeit zu bezeugen haben] – wie können dann vordatierte Schuldverschreibungen gültig sein?
Das ist nicht schwierig! Denn wir diskutieren [jetzt hier] eine strengere Fragestellung, als die Mishna behandelt. Sie spricht nämlich ausdrücklich vom ersten Nissan des Shmitta-Jahres, in dem es ungewöhnlich ist, dass jemand ein Darlehen gibt [weil am Ende des Shmitta-Jahres alle Darlehen verfallen]. In diesem Fall wäre es nicht plausibel, dass die Zeugen den Darlehensvertrag vordatiert haben [auf den ersten Tag des Shmitta-Jahres, denn da am Ende dieses Jahres alle Darlehen verfallen, rückt ein solches Vertragsdatum den Vertrag in ein schlechtes Licht]. Wir können also nur annehmen, dass sie tatsächlich säumig waren und den Vertrag erst später aufgesetzt haben. Da aber am Ende des Shmitta-Jahres ohnehin alle Darlehen verfallen, [urteilen wir hier nachsichtig] und erklären den Vertrag für gültig.
Dennoch bleibt eine Schwierigkeit.
Rabbi Chanina sagte: Gemäß der Torah gelten für dinei mamanot und dinei nefashot gleiches Recht, wie es heißt »Ein Gesetz soll Dir gelten…« Und wie kommen [die Überlieferer unserer Mishna] dann dazu zu behaupten, dass Chakirot und Derishot bei dinei mamanot nicht erforderlich seien? – Um die Tür nicht zu verschließen vor dem, der leiht. [Darlehen nur mit zwei Zeugen einklagen zu können, vergrößert das Risiko für den Kreditgeber, denn einer der Zeugen könnte sterben, auswandern etc., und der Kreditgeber hätte keine Möglichkeit mehr, die Rückzahlung einzuklagen!]
Aber [wird entgegnet] : Wäre es so, wie kann es dann sein, dass Richter, die sich in einem Fall von dinei mamanot geirrt haben, schadenersatzpflichtig sind? [Man hat ihnen ja die Möglichkeit der genauen Befragung durch Chakirot und Derishot genommen! Und die Antwort: Würde man Richter von der Pflicht zum Schadenersatz befreien] das würde erst recht die Tür verschließen vor dem, der leihen will.
Rava sagte: Unsere Mishna beschäftigt sich [überhaupt nur] mit Fällen, in denen es um eine Geldstrafe (Knas) geht, wohingegen die [andere zitierte] Überlieferung von Darlehen spricht. [Nur in solchen Fällen (wo es nicht um eine Geldstrafe geht, haben die Weisen die Notwendigkeit von Chakirot und Derishot aufgehoben, um das Kreditwesen zu befördern.]
Rav Pappa sagte: Die Mishna wie auch die [andere zitierte] Überlieferung handeln von Kreditsachen. Die Mishna aber spricht von Fällen, in denen die Richter den Verdacht eines Betruges haben. [Dann sind Chakirot und Derishot notwendig.] Die Überlieferung spricht hingegen von Kreditsachen, in denen keinerlei Verdacht des Betruges besteht.
Und erst jetzt können wir den Rambam verstehen. Er präsentiert lediglich die Halacha, also das praktizierte Recht. Seine Entscheidung aber beruht auf der Gemara Sanhedrin 32a. So zitiert er am Anfang zwar die Mishna, führt dann aber die Halacha aus, die scheinbar im Widerspruch zu dieser Mishna steht. Aber es gibt, wie wir gesehen haben, gar keinen Widerspruch, sondern lediglich ein Verständnisproblem auf Seiten des Studierenden!
Offenbar war der Rambam ein besonders raffinierter Pädagoge: Er wirft uns zu Beginn dieses Kapitels einen scheinbaren, unerhörten Widerspruch vor die Füße. Die Uninteressierten überlesen das, wer hingegen aufmerksam ist und der ausgelegten Fährte in die Gemara folgt, wird mit einer hochinteressanten Studierstunde belohnt.
Am 28. Oktober 2010 um 17:11 Uhr
[…] ••• Nach dem Ausflug in die Gemara Sanhedrin, liest man die folgenden Paragraphen des 3. Edut-Kapitels und denkt nur: Natürlich, was denn […]