••• Aleksis Kivi thront an der Stirnseite des großen offenen Platzes rechts neben dem Hauptbahnhof von Helsinki in Bronze auf einem Sockel. Er gilt als der Vater der modernen finnischen Literatur. Erst um 1540 entwickelte Mikael Agricola im Zuge der Reformation das bis dahin lediglich gesprochene Finnische zur Schriftsprache, um den Finnen das »Wort Gottes« in ihrer Muttersprache zugänglich zu machen. Aleksis Kivi schließlich wird der erste Roman in finnischer Sprache zugeschrieben. »Seitsemän veljestä«, deutsch »Die sieben Brüder«, erschien 1870. In dem nach dem Nationaldichter benannten Literaturhaus »Villa Kivi« haben Lutz Seiler und ich heute unsere Bücher vorstellen dürfen. (Kivi übrigens heißt »Stein«, räusper, das musste ich jetzt schon erwähnen…)
Die Veranstaltung dauerte zwei Stunden, moderiert von Kaisa Kaakinen, die auch simultan übersetzte. Ich hatte den ersten Part zu bestreiten und las eine kurze Passage aus dem Wechsler-Strang der »Leinwand«, in der es ums black polish geht.
Beim »black polish« werden unter Verwendung verschiedener Pasten, Stoffe und Hölzer Einzelteile mechanischer Uhrwerke veredelt. Die Oberfläche des Stahls wird dabei so plan und glatt, dass sie bei einem bestimmten Einfallswinkel des Lichts tiefschwarz erscheint. Betrachtet man ein solches Einzelteil später, im Werk verbaut, unter wechselndem Licht, wirkt es zunächst wie ein Spiegel. Im nächsten Moment jedoch, wenn man es nur leicht neigt, scheint es das Licht vollständig zu absorbieren, und der Blick des Betrachters versinkt in diesem schwarzen Spiegel wie in einem tiefen Spalt, der sich plötzlich zur Unendlichkeit hin aufgetan hat. Eine solche Wirkung erhoffte ich mir für meine Prosa […]
Schon auf dem Weg zur »Villa Kivi« hatte ich mich mit Lutz über unsere gemeinsame Begeisterung für mechanische Uhren unterhalten, den Klang der Zeit, sei es im Ticken eines Uhrwerks oder dem unvergleichlichen Schnurren des Rotors eines Automatikaufzugs. Und ausgewählt hatte ich diese Passage, weil Lutz Seilers Band poetischer Erzählungen nicht nur mit dem Titel »Zeitwaage« auf mechanische Uhren anspielt, sondern weil seine Prosa das ist, was Wechsler für sich und seine Prosa nur erhoffen konnte. Ich habe es auf der Lesung gesagt und gebe es gern auch hier zu Protokoll: Wer Prosa in Black-Polish-Qualität lesen will, sollte sich Seilers »Zeitwaage« besorgen.
Lutz Seiler und Laura Lindstedt in der Villa Kivi
Für Lutz war heute noch aus einem anderen Grund ein besonderer Tag, denn seit heute wird sein neuer Lyrikband »im felderlatein« ausgeliefert. Über die Prosa und die Gedichte von Lutz Seiler werde ich in ein paar Tagen noch ausführlicher schreiben. Heute und zu dieser wieder sehr fortgeschrittenen Stunde würde es zu weit führen.
Mit der sprachgewandten Moderatorin des Abends: Kaisa Kaakinen
Foto: Jürgen Jakob Becker (LCB)
Nach der Einleitung las der finnische Autor Jarkko Tontti zurückhaltend lakonisch das erste Wechsler-Kapitel in der Übersetzung von Tarja Roinila. Lutz Seilers Auszug aus der »Zeitwaage« wurde von Laura Lindstedt vorgetragen, die für eine erkrankte andere Autorin eingesprungen war und – wie gestern schon aus dem »Matrosenroman« von Judith Schalansky – ganz wunderbar las, so dass man selbst als des Finnischen Unkundiger nur gebannt lauschen konnte.
Der Abend klang aus in einer Jazz-Kneipe. Als die Autoren aufbrachen, konnte ich meinen Mantel nicht finden und verlor den Anschluss. So hatte ich auch noch das Abenteuer eines einsamen Fußmarsches durchs nächtliche Helsinki zu bestehen. Aber alles ging gut. Irgendwann fand ich mich auf der Rückseite des gewaltigen evangelischen Domes wieder, und von dort aus war der Weg zum Hotel leicht zu finden.
Rückseite des evangelischen Doms, Helsinki
Morgen geht es am frühen Vormittag auf nach Tampere. Dort werden alle fünf Autoren en suite auf einer Veranstaltung des Deutschen Kulturzentrums vorgestellt. Zwanzig Minuten sind pro Autor veranschlagt. Das wird für das Publikum ein pralles Programm. Ich bin gespannt.
Am 16. September 2010 um 00:11 Uhr
Mir gefallen die Finnischen Namen.
Am 16. September 2010 um 07:18 Uhr
Oja, aber sie sich zu merken, ist nicht ohne…
Am 16. September 2010 um 09:28 Uhr
Na, dann viel Glück auch in Tampere (falls Du Zeit hast, geh‘ mal in die Seitenstraßen, kommt Dir da ggf. was bekannt vor…?).
Und falls Du noch Zeit für Dich allein in Helsinki haben wirst, dann fahre doch ggf. mal mit der Straßenbahn (Nr. 3 T / B). Ist die Ringstraßenbahn. – Quer und rundrum durch Helsinki, Stadtrundfahrt zum Nulltarif… Fand ich jedenfalls, super.
Am 21. September 2010 um 11:06 Uhr
[…] Gedichte, Suhrkamp Verlag 2010••• Vor unserer gemeinsamen Lesung in der »Villa Kivi« in Helsinki saß ich mit Lutz Seiler noch ein paar Minuten abseits vom Publikum, und äugte […]