Vor der Bar »Hemingway’s« im Zentrum von Helsinki
••• Für die Finnen sind wir alle Sachsen. – Nähh, stimmt nicht. Aber auf der grade erschienenen Ausgabe der finnischen Literaturzeitschrift »Nuori Voima« steht »Saksalainen nykyproosa«, und weil ich, wenn es um Finnisch geht, nur raten kann, was gemeint ist, muss man mir nachsehen, dass ich zuerst an »sächsische Nacktprosa« dachte. Und das muss man sich jetzt erst einmal in aller Seelenruhe vorstellen…
Wir fünf deutschen Autoren sind hier in Helsinki aufs herzlichste empfangen worden und wurden – kaum angelangt – auch schon herumgereicht. Geladen war am ersten Abend ins »House of Nobles«, wo einst die Ritter tagten und heute standesgemäß die Literatur zu Hause ist. Genauer gesagt: In diesem beeindruckenden alten Haus inmitten von Helsinki befinden sich die Büroräume von FILI, der »Agentur zur Verbreitung finnischer Literatur«. Und diese kümmert sich eben nicht nur darum, finnische Literatur im Ausland bekannt zu machen, sondern müht sich ebenso, ausländische Autoren und deren Werke dem finnischen Publikum zugänglich zu machen. FILI gehört neben den Machern von »Nuori Voima«, dem Goethe-Institut und dem Literarischen Colloquium Berlin zu den Initiatoren und Organisatoren dieser Reise. Es gab ein zweistündiges Stehrumchen mit erlesenem Büffet. (Sogar für den schrulligen Koscheresser war Essen und Wein besorgt worden, danke!) Anwesend waren die Organisatoren, finnische Autoren (u. a. Lauri Otonkoski, Präsident des finnischen P.E.N., der er ein wundervolles Gedicht vortrug, ja geradezu vorsang, das ich hier hoffentlich noch werde präsentieren dürfen) und – die Übersetzer unserer Texte. Nach einer Vorstellungsrunde gab es also keinen Mangel an Gesprächsstoff.
House of Nobles, Helsinki (Residenz von FILI)
Eines kann man sagen: Die Übersetzer/innen haben wundervolle Arbeit geleistet. Tarja Roinila, der ich die Übersetzung des »Leinwand«-Kapitels verdanke, hat mich heute sogar regelrecht sprachlos werden lassen, als wir über die Übersetzung des Mottos sprachen, das dem Wechsler-Strang vorangestellt ist.
willst du den hohlweg nehmen
oder den fluss? (den fährmann
zahlt niemand mit liebe)
Ihr war bewusst, dass der »hohlweg« hier eine Vokabel Celans zitiert – aus einem Gedicht, das bislang nicht ins Finnische übersetzt worden ist. Zitieren wie im Original konnte man also nicht. Wohl, sagte sie, gebe es eine finnische Entsprechung, deren gewöhnliche Benutzung aber von der Bedeutung her vom Fährmann über den Styx weit weggeführt hätte. Also hat sie eine andere Lösung gefunden. Wow. Und ich hätte nicht einmal für möglich gehalten, dass jemand diesen »hohlweg« mit Celan in Verbindung bringt.
Um 22:00 Uhr mussten wir das herrschaftliche Haus verlassen und sind in eine Bar eingekehrt, »Hemingway’s«, ebenfalls im Zentrum, ganz in der Nähe des Hauptbahnhofs.
Laura Serkosalo und Martti-Tapio Kuuskosi von »Nuori Voima«
Spät ist es geworden. Die andern Autoren schwächelten früh, und schließlich blieb ich mit Laura und Martti noch bis halb zwei bei prächtigem Gespräch über Literaturzeitschriften, literarische Weblogs und Sitten und Unsitten im Umgang von Autoren untereinander. Martti übrigens ist Chefredakteur von »Nuori Voima«, Laura Executive Director der »Nuori Voima Assoziation«. Martti gibt also für seine aufwändig gestalteten Hefte das Geld aus, das Laura mühsam beschaffen muss… Man darf an dieser Stelle mal erwähnen, dass es diese Zeitschrift bereits seit 102 Jahren gibt. Na, und ich dachte immer, »Sinn und Form« sei schon ein Dinosaurier. Denkste.
Heute früh traf man sich wieder – wir »Saksen« und die Übersetzerinnen Helen Moster und Tarja Roinila – zur Stadtbesichtigung. Die begann im Museum, wo sich, so Helen, »der Saal befindet, in dem die finnische Malerei ausgestellt ist«. Frech untertrieben natürlich. Denn es waren mehrere Säle, und gezeigt wurde sicher nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was Maler und Bildhauer Finnlands zu bieten haben.
Zwei Exponate muss ich hier zeigen. Da ist zum einen der lebendige Stuhl mit dem Titel »Volkslied« von Ismo Kajander. Der gekrönte Spatz (ist es denn einer?) erinnerte mich an den Zaunkönig im »Kalten Land«.
Den »Engel« Kauko Räsänen musste ich schon allein deswegen aufnehmen, weil es hier eine Engel-Rubrik gibt. Außerdem hatte es mir das Schattenspiel angetan.
Im Anschluss an die finnische Kunst ging es über die Esplanaden zum Hafen.
Und da gab es nun wirklich Spatzen! Seit ewigen Zeiten hatte ich keinen mehr gesehen. Vor die Linse bekommen habe ich sie leider nicht.
Und, und, und … Das hätte schon genug sein können für einen Tag. Dabei ging es am Abend erst richtig los. Was aber geboten wurde im »Prosak«, dem Prosaklub im Untergeschoss des Billardcafés »Dubrovnik«, einst Kinnosaal und Residenz von Aki Kaurismäki – das werde ich heute nicht mehr erzählen, denn es ist schon wieder bald 2:00 Uhr. Ich muss morgen fit sein. Gegen 12:00 werde ich mit Hanna Lemke in der deutschen Schule lesen und am Abend noch einmal, dann gemeinsam mit Lutz Seiler.
Der Chronist bittet also um ein wenig Geduld. Und Korrekturlesen muss auch ausfallen. Heute mal lax. Gute Nacht!
Am 15. September 2010 um 10:54 Uhr
Das Schattenspiel ist wirklich beeindruckend – und ja quasi komplementär. Die Frage ist, wohin der Engel blickt: Vergangenheit oder Zukunft. Mehr Fotos! Und herzlich aus Berlin!
Am 15. September 2010 um 13:59 Uhr
[…] unüblich ist nach solchen Abenden, bald auseinander und ins Hotel. So bin ich immerhin noch zum Berichten gekommen und dennoch auch zu etwas […]