Wandmosaik von César Manrique
im Hof seines ehemaligen Wohnhauses in Arrecife (Lanzarote), Quelle: Wikimedia
Die Kanaren sind ein Magnet für Einwanderer. Das war nicht immer so. Die Inseln verdanken ihre Existenz vulkanischer Aktivität. Die letzten größeren Ausbrüche liegen gerade einmal 280 Jahre zurück. Auf der Südspitze von Lanzarote wuchs um 1730 ein gewaltiger Berg aus dem Nichts, und Lavaeruptionen und Ascheregen verwandelten die Gegend in eine bis heute lebensfeindliche Mondlandschaft. Es muss zehntausende Jahre gedauert haben, bis auf den Kanaren, nachdem sie sich als schwarze Lavafelsen aus dem Meer erhoben hatten, überhaupt Landwirtschaft möglich war, um die »Canarios« zu ernähren. Und dann kamen die Spanier…
Die Kanarischen Inseln gehören zu den letzten Überresten des einst weltumspannenden spanischen Kolonialreichs. Als 1492 Schiffe für die Conquista Amerikas gebraucht wurden, mähten die Spanier die kanarischen Wälder nieder. Ohne die Bäume erodierte die fruchtbare, aber auch dünne Erdschicht über dem Lavagestein, und von den landwirtschaftlichen Ertragsmöglichkeiten blieb nicht viel: Da es kaum regnet, gedeihen ohne aufwändige Bewässerung nur Sukkulenten, Aloe Vera und trockene Bodenflechten, von denen sich Ziegen ernähren können. Die bringen dann wenigstens Käse auf den Tisch. Kurz: Das Leben auf den Inseln war nach dem Raubbau der Spanier kein Vergnügen, und wer es einrichten konnte, machte sich davon – oft in Richtung der Neuen Welt, also den Bäumen nach, die die Kolonialherren geraubt hatten.
Die Auswanderung ebbte erst ab mit dem ersten Weltkrieg. Spanien gehörte zwar nicht zu den kriegführenden Nationen. Im Kampf um die Seehoheit der Kontrahenten gerieten die Kanaren jedoch in die Isolation. Die Versorgungswege – damals vornehmlich zur See – waren abgeschnitten, und das Leben wurde so beschwerlich, dass nach dem Krieg eine neue Auswanderungswelle einsetzte. Die »Canarios« flohen nicht nur vor Hunger und Armut. Sie flohen auch vor der Spanischen Grippe, die 1918 allein in Spanien bereits 8 Millionen Opfer gefordert hatte.
Nur sehr wenige dieser Auswanderer fanden in der Neuen Welt ihr Glück. Die meisten endeten als billige Arbeitskräfte – man könnte auch sagen: moderne Sklaven – auf südamerikanischen Latifundien. Die Großgrundbesitzer zahlten die Überfahrt, eine Schuld, die es dann über Jahre abzuarbeiten galt. Oft waren es Familienväter, die so die Reise nach Übersee antraten und kaum je zurückkehrten oder auch nur Geld schicken konnten. Zurück blieben Kinder ohne Väter und Frauen ohne Männer, die »Venezuela-Witwen«.
Wer es nach Venezuela geschafft hatte, war immerhin am Leben. Die Passagiere des Emigrantenschiffs »Valbanera« trafen es noch schlechter. Das Wrack des Schiffes wurde im seichten Wasser vor Key West gefunden, nachdem es monatelang als verschollen gegolten hatte. Weder Überlebende noch Leichen wurden gefunden, aber 1.600 Passagiere, darunter 600 »Canarios« blieben verschwunden.
Überreste der Valbanera (1919), Quelle: encia21 blog
Wenn man auf Kuba landete, war schwer zu entscheiden, ob man nicht besser ertrunken wäre. Auf der Karibikinsel landeten die Einwanderer in Konzentrationslagern, aus denen sie nur entlassen wurden, wenn sie einen Arbeitsplatz nachweisen konnten. Und die Regierung unterhielt nicht etwa eine Arbeitsagentur auf dem Gelände dieser »Campos de concentración«…
Franco schließlich riegelte die Kanaren ab. Während des Bürgerkrieges ab 1936 galt Emigration als Verbrechen. Man hatte die Wahl zwischen Hunger oder dem Erschießungskommando. Es sei denn, man erfreute sich der Freundschaft des Diktators wie der offizielle Nationalkünstler César Manrique – begnadeter Maler, Bildhauer, Landschaftsgestalter und Architekt – dem die Kanaren, vor allem aber Lanzarote, ihr modernes Antlitz verdanken. Manriques »Herrschaft« war so etwas wie eine Ästhetik-Diktatur. Es ist ein schwer zu verdauender Gedanke, dass die Kanaren womöglich der starken Hand Francos und den Visionen des von ihm begünstigten Visionärs Manrique ihr heutiges Prosperieren verdanken.
Heute nämlich wimmelt es auf den Kanaren nur so von Einwanderern, vor allem Deutschen und Briten; und die meisten davon sind »hängengebliebene« Touristen. Es gibt regelrechte Oasen der Zugezogenen, also Orte, an denen mehr Deutsch oder Englisch als Spanisch gesprochen wird. Wir waren einmal im Süden von Fuerteventura, und vom Tauchlehrerehepaar über den Zahnarzt und die Apothekerin bis hin zur Managerin der örtlichen Autovermietung trafen wir lauter Deutsche. Das hatte beinahe etwas Gespenstisches. Die meisten dieser Einwanderer leben vom Tourismus; und ein Tourismuszentrum wären die Inseln allein des Klimas wegen wohl kaum geworden. Die meisten kunstvoll angelegten Palmenwäldchen und blühenden Oasen, Parks und Ausflugszentren – etwa in der vulkanischen Mondlandschaft um Yaiza auf Lanzarote – gehen auf Ideen und Entwürfe von Manrique zurück. Auch an der pittoresken Kulisse der flachen weißen Häuser, allesamt mit Türen und Fenstern in uniformem Grün, würden sich die Touristen heute nicht freuen, hätte Manrique nicht mit mächtiger Rückendeckung rigorose Bebauungsvorschriften durchgesetzt. Wie Recht er hatte, kann man in Arrecife sehen. Dort wurde nach Manriques Tod und gewissermaßen als offener trotziger Befreiungsakt das einzige Hochhaus Lanzarotes gebaut, der Glasklotz eines Fünf-Sterne-Hotels und ein so offensichtliches Architekturverbrechen, dass es bei dem einen Fehltritt geblieben ist.
Heute also wandert man nicht mehr aus von den Kanaren, sondern wandert ein. Und als erstes verinnerlicht man wohl, dass das nicht immer so war und warum. Auf der Strandpromenade von Puerto del Carmen habe ich nicht nur das Werbeplakat der Massagepraxis entdeckt, sondern auch ein Transparent. »The Canaries are not Spain. Freedom for our Islands!«, stand darauf. Auf Englisch wohlgemerkt.
(wird fortgesetzt)
© Benjamin Stein (2010)