Kameraden

3. August 2010

••• Literatur kann ich dieser Tage nur in homöopathischen Dosen zu mir nehmen. Lustlos schleiche ich um den Stapel der ungelesenen Neuanschaffungen herum. Da wäre einiges Lesenswerte, aber nichts »macht mich richtig an«, so dass ich dazu greifen müsste. Also habe ich vor zwei Wochen etwa in den Regalen mit den »Altbeständen« gestöbert und nach einem bb-Taschenbuch (Aufbau Verlag, DDR) von 1969 gegriffen: Franz Fühmanns Erzählungsband »Tage« (nicht zu verwechseln mit »Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens«). Die darin enthaltenen Erzählungen findet man heute wahrscheinlich nur in der achtbändigen Werkausgabe (sollte man die mal bestellen?) oder aber antiquarisch in diesem oder jenem Sammelband mit Fühmann-Erzählungen.

»Tage« enthält fünf Erzählungen über Kriegserfahrungen: »Kameraden«, »Das Gottesgericht«, »Die Schöpfung«, »König Ödipus« und »Kapitulation«. Ich habe in den letzten Wochen nur die beiden ersten lesen können, jeweils in einem Stück und jeweils nachher so berauscht und demütig, dass ich es kaum beschreiben kann. Ich fühlte mich an meine Tschechow-Erfahrung erinnert, wenngleich Fühmann natürlich ganz andere Themen verhandelt und sprachlich wie technisch noch einmal ganz andere Saiten anzupft als Tschechow.

»Kameraden« ist eine rundum perfekte Erzählung. Bereits der erste Absatz von nur 1/3 Seite hat mich erobert, denn mit wenigen Worten schafft Fühmann das »Setting« aller folgenden Ereignisse:

Im Juni des Jahres 1941, an der Mehmel, geschah es, daß drei Soldaten, der Obergefreite Karl W. und die Oberschützen Josef L. und Thomas P., gemeinsam ihren großen Tag hatten. Es war ihnen gelungen, bei einem Übungsschießen mit je drei Schuß fünfunddreißig Ringe zu treffen. Das war das beste Schießergebnis seit Jahren im Bataillon, ja in der gesamten Division. Die drei waren sofort, noch auf dem Schießstand, vom Bataillonskommandeur, einem Major von der Saale, belobigt worden. Es war üblich, den glücklichen Schützen nach solchen Leistungen Heimaturlaub zu gewähren; doch schon seit Wochen war Urlaubssperre. So wurden die drei für drei Tage von jeglichem Dienst befreit. Sie durften wegtreten, ohne das Ende der Übung abwarten zu müssen.

An der Mehmel verlief damals die Grenze zwischen dem deutsch-besetzten Polen und der Sowjetunion. Und Urlaubssperre war, weil der Überfall auf die Sowjetunion unmittelbar bevorstand. Die drei glücklichen Schützen beschließen, einen längeren Fußmarsch zur nächstgelegenen Ortschaft mit Kneipe zu unternehmen. Und da sie wegtreten durften, »ohne das Ende der Übung abwarten zu müssen«, tragen sie ihre Gewehre und die verbliebene scharfe Munition mit sich.

Unterwegs fällt ihnen ein gewaltiger Vogel auf, ein Reiher scheinbar, der majestätisch über ihnen seine Kreise zieht. Übermütig vom Erfolg auf dem Schießstand, kommen die Soldaten auf die Idee, aus großer Entfernung den Vogel zu erlegen und als Trophäe dem Major zu überreichen.

Der Vogel schoß davon, als witterte er sein Verderben, den Hals weit vorgestreckt, ein Pfeil, bewegt von zwei riesigen Rudern. Er entschwand. Enttäuscht ließen die Soldaten ihre Gewehre sinken. Aber sie hatten Glück, das zweite Mal an diesem Tage. Der Reiher schwamm wieder heran, und nun belauerten sie ihn, fiebernd vor Jagdlust. Der Vogel stand noch sehr hoch. Langsam kam er herunter. Er stieß einen krächzenden Schrei aus, dann schoß er, flügelklatschend, einem Weidengebüsch am Wasser zu und ließ sich dort nieder. Sein Schwanz leuchtete, sonnenbeglänzt, aus dem ruhigen Grün. Er äugte zu den Soldaten hinüber, dann wandte er sich dem Wasser zu, um zu trinken. Da drückten Josef und Karl gleichzeitig ab, und Thomas wollte gerade den Finger am Abzug krümmen, doch ein schrecklicher Schrei, der den Donner des Schusses überschrie, lähmte ihn.

Als die Soldaten bei dem Weidengebüsch ankommen, »da war keine Rettung mehr«.

Da lag, zerfetzt, der Reiher, und neben ihm sahen sie ein Mädchen liegen, tot. […]

»Um Gottes willen«, sagte Karl entsetzt, »um Gottes willen, das ist ja die Tochter des Majors!«

Dieser Mord, so viel steht fest, wird ausgiebig untersucht werden, wenn er entdeckt wird. Nur zwei von den dreien haben geschossen, und der Reiher wie auch das Mädchen wurden getroffen und sind tot. Also wissen die beiden Schützen nicht, wer von ihnen der Mörder ist, aber sie wissen, dass der dritte in ihrem Bunde, da er noch alle Patronen hat, beweisen kann, dass er selbst unschuldig ist. Also müssen sie fürchten, von ihm verraten zu werden. Das alles erzählt Fühmann, ohne es wirklich auszusprechen, wie beiläufig mit, während er Schlag auf Schlag, Satz auf Satz die Handlung vorantreibt.

Solche Sätze, die den Konflikt verschärfen, wenden, komplizieren, gibt es im weiteren Verlauf immer wieder. Zwischen den Kameraden entbrennt ein Psychodrama. Jeder durchstandenen Krise lässt Fühmann eine Wendung folgen, die aus dem gerade scheinbar glücklich Überstandenen ein noch schwärzes Unrecht folgen lässt.

Wie es ausgeht? Das kann ich nun wirklich nicht verraten. Man muss es selbst lesen.

7 Reaktionen zu “Kameraden”

  1. thymianteppich

    Dieser Fühmann-Text war einer meiner Lieblings- und ein Prüfungstext. Ich hoffte wirklich, er würde endlich – wieder – gelesen werden, der olle Fühmann, und seine Biographie ist ja auch kein Pappenstiel …

  2. Paco

    »Kameraden« ist wirklich stark und hat auch noch einen der gelungensten letzten Sätze. – Grüße aus Litauen, Paco.

  3. Benjamin Stein

    @Paco: Welchen denn?

  4. Benjamin Stein

    Oi, wie schräg – lesen müsste man können. So viele letzte Sätze hat die Erzählung ja nicht… Ich ziehe die Frage zurück.

  5. CoriolanSPQR

    An der Mehmel verlief damals die Grenze zwischen dem deutsch-besetzten Polen und der Sowjetunion.

    Ach, tat sie das?

    Bei Kriegsbeginn war die Memel Grenzfluß zwischen dem deutschen Reich und Litauen.

    Eine Grenze zwischen dem deutsch besetzten Polen und der UdSSR gab`s ebenfalls nicht – einfach deswegen nicht, weil der östliche Teil Polens sowjetisch besetzt war. An der Memel grenzte nicht Polen an die Sowjetunion, dort lag seit der Vereinnahmung der baltischen Staaten durch die Sowjetunion im Zuge des Hitler/Stalin-Paktes für 2 Jahre das einzige Stück Grenze, das Deutschland und die UdSSR je gemeinsam hatten.

  6. Benjamin Stein

    Verzeihen Sie die historisch fragwürdige Formulierung. Wir können aber festhalten, dass sich dort zu jener Zeit die russischen und deutschen Soldaten unmittelbar gegenüberstanden – kurz vor dem Überfall auf die Sowjetunion. Und das ist die Ausgangslage der Erzählung.

  7. CoriolanSPQR

    Nichts für ungut, versteht sich.

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