••• Warum ich Sartres „Wörter“ wieder hervorgekramt habe, das habe ich schon berichtet. Nach den ersten zwanzig Seiten hätte ich nicht gedacht, ich würde mich festlesen. So ist es aber gekommen.
Sartre, der berühmte Autor, berichtet von Sarte, dem Sechsjährigen, der lesen lernte, bevor man überhaupt erwogen hatte, ihn in die Schule zu schicken. Und der zuvor schon so tat, als würde er lesen, vor allem, um die entzückte Aufmerksamkeit von Großvater Charles Schweitzer zu erregen, der seinerseits das Lesen aufgegeben hatte – jedenfalls das Lesen um des Vergnügens willen.
Es gibt viele Arten, keine Kindheit zu haben… Dies war wohl eine davon. Erst Lesen, um zu gefallen. Dann Schreiben, um zu gefallen. Und während Sartre über seine Lektüren im Kindesalter berichtet, überrascht er plötzlich mit einer Betrachtung zur Aufrichtigkeit, die vielleicht beim Lesen entbehrlich ist, jedoch nicht beim Schreiben.
Auch heute noch leide ich an derselben Unsitte, an der Vertraulichkeit. Ich mache mit den erlauchten Toten wenig Umstände; über Baudelaire und Flaubert äußere ich mich ohne Umschweife, und wenn man es mir vorwirft, möchte ich am liebsten antworten: „Mischt euch nicht in unsere Angelegenheiten. Eure Genies haben mir gehört, ich habe sie in meinen Händen gehalten und leidenschaftlich geliebt, in aller Respektlosigkeit. Soll ich mir etwa Handschuhe anziehen, wenn ich mit ihnen verkehre?“ Aber Karls Humanismus, diesen Humanismus eines Prälaten, habe ich an jenem Tage von mir abgetan, als ich begriff, daß jeder Mensch die Menschheit bedeutet. Wie traurig sind solche Genesungen: die Sprache ist ermattet; die Helden der Feder, meine einstigen Ranggenossen, wurden ihrer Privilegien beraubt und sind in Reih und Glied zurückgekehrt: zweimal trage ich um sie Trauer.
Was ich soeben geschrieben habe, ist falsch. Ist richtig, wie alles, was man über diese Verrückten schreibt, über die Menschen. Ich habe die Tatsachen so genau mitgeteilt, wie mein Gedächtnis es zuließ. Aber wieweit glaubte ich eigentlich an mein Delirium? Dies ist die Grundfrage, und dennoch kann ich sie nicht entscheiden. In der Folge habe ich gesehen, daß wir unsere Empfindungen ganz und gar nachempfinden können, mit Ausnahme ihrer Stärke, also ihrer Aufrichtigkeit. Die Handlungen selbst helfen uns dabei nicht weiter, außer wenn man beweisen kann, daß sie mehr waren als Gesten, was nicht immer leicht ist. Sehen Sie doch einmal: ich war allein inmitten der Erwachsenenbücher; bereits dieser Satz klingt falsch, denn gleichzeitig blieb ich ein Kind. Ich behaupte nicht, schuldig gewesen zu sein: so war es nun einmal; aber meine Expeditionen und Jagden gehörten zu dem Familienschauspiel, an dem man sich entzückte, wie mir bewußt war: jawohl, wie mir bewußt war. Jeden Tag weckte ein Wunderkind die Zauberbücher zu neuem Leben, die sein Großvater nicht mehr las. Ich lebte über mein Alter, wie man über seine Verhältnisse lebt. Mit Eifer, mit Anstrengung, auf kostspielige Weise, für die Schau. Kaum hatte ich die Tür zur Bibliothek aufgemacht, fand ich mich im Bauch eines untätigen Greises: der große Schreibtisch, die Schreibunterlage, die Tintenflecken, rote und schwarze, das rosa Löschblatt, das Lineal, der Kleistertopf, der durchdringende Tabaksgeruch und im Winter die rötliche Glut des Dauerbrandofens, das Knacken des Glimmers, das alles war Karl in Person, in verdinglichter Form: mehr brauchte ich nicht, um mich in den Zustand der Gnade zu versetzen, ich eilte zu den Büchern. In aller Aufrichtigkeit? Was heißt das? Wie wäre es möglich – besonders nach so vielen Jahren -, die unbegreifbare und unbewegliche Grenze zu fixieren, die zwischen Besessenheit und Getue verläuft?
Jean-Paul Sartre, aus: „Die Wörter“
© Rowohlt Verlag 1965
© Editions Gallimard 1964