Method Writing

2. Juli 2010

Konstantin Sergejewitsch Stanislawski
Konstantin Sergejewitsch Stanislawski (1883-1938)
gezeichnet von Valentin Alexandrovich Serov (1865-1911)
Quelle: Wikipedia

••• Das »Adam Seide Archiv« hat mich zu einer Lesung im Rahmen des 5. Adam-Seide-Lesetags eingeladen. Der Veranstalter gibt zu diesem Event jeweils ein sehr aufwändig gestaltetes Heft heraus, in dem die Lesenden vorgestellt werden und sich mit einem Text über ihr Schreiben selbst vorstellen.

Diesen Text bin ich bislang schuldig geblieben. Nun ist es nicht so, dass ich nicht wüsste, was ich treibe. Und es ist auch nicht so, dass ich in den letzten Wochen nicht darüber nachgedacht hätte, was ich wohl schreiben sollte. Gestern nun wurde ich von den Veranstaltern dezent erinnert und muss also.

Als Entwurf liest sich das so …

 

Konstantin Sergejewitsch Stanislawski kam 1923 mit seinem »Moskauer Künstlertheater« zu einem Gastspiel nach New York und hinterließ beim Publikum und bei den amerikanischen Schauspielerkollegen bleibenden Eindruck. Stanislawskis Methode der Schauspielausbildung und Rollenaneignung während ungewöhnlich umfangreicher Proben bedeuteten den Abschied von der Rollenfachschauspielerei. Obwohl in späteren Jahren eher ein Anhänger des Symbolismus, zielte Stanislawski auf eine »naturalistische Echtheit« der Darstellung auf der Bühne. Dies hatte weit reichende Folgen für die Positionierung des Schauspielers zwischen »Rolle« und »Ich«.

»Was wäre, wenn …«, fragt Stanislawski den Schauspieler und ermuntert ihn, in die eigene Erinnerung zu tauchen, um im Wiedererleben eigener Erlebnisse, die – womöglich entfernt – denen der darzustellenden Figur ähneln, Emotionen zu evozieren, die eine glaubwürdige Darstellung ermöglichen. Als durchlebte der Schauspieler im Moment des Spielens tatsächlich die Situation, in der sich die dargestellte Figur befindet.

In der Sowjetunion vertrug sich Stanislawskis Vorstellung von Schauspielerei schon bald nicht mehr mit den Maßgaben der bolschewistischen Machthaber. In New York aber zündete seine Idee. Der dorthin ausgewanderten Stanislawski-Schüler Richard Boleslawski gründete das »Lab Theatre« und begeisterte den jungen Schauspieler Lee Strasberg so nachhaltig, dass dieser die Methode theoretisch und praktisch weiterentwickelte und in dem zusammen mit einigen Schauspielerkollegen gegründeten »Actors Studio« schließlich mehrere Generationen von Schauspielern prägte.

»Method Acting« nannte Strasberg seine Methode, die sich von den Ansichten Stanislawskis in einem entscheidenden Punkt entfernt: Im »Method Acting« geht es nicht mehr um naturalistische Nachahmung. Vielmehr rückt die Imagination des Schauspielers in den Vordergrund, und das Spielen wird zur Reaktion auf imaginierte Stimuli. Vier Fragen müsse sich der Schauspieler bei der Annäherung an eine Figur in einer bestimmten Situation stellen:

1. Wer bin ich?
2. Wo bin ich?
3. Was will ich hier und warum?
4. Was ist zuvor geschehen?

Affektives, sensorisches und emotionales Erinnerungsvermögen spielen die entscheidende Rolle, und nicht selten muss sich der Schauspieler bewusst in Situationen begeben, die ihm eventuell vergleichbare Erfahrungen als Assoziations- und Gestaltungsbasis erst verschaffen …

Was nun hat das alles mit der Frage nach meinem Schreiben zu tun? Ich bin gewiss kein Naturalist und bezweifle sogar entschieden die Existenz einer »objektiven Realität«, die außerhalb der Wahrnehmungsmöglichkeiten eines Individuums existierte. Warum also sollte ich mir die Mühe machen, naturalistisch zu erzählen? Was mich interessiert, ist die Welt, die in uns entsteht, wenn wir wahrnehmen – und daraus ergäbe sich höchstens ein »subjektiver Realismus«, aus dem – abhängig von der erzählenden Figur – auch ein magischer oder phantastischer oder mystischer Realismus werden kann.

Will ich solche Welten für den Leser sichtbar machen, muss ich mich in die Figur begeben und sie selbst sprechen lassen. Dies ist als Methode alles andere als neu. Dass es »meine Methode« werden müsse, war mir schon sehr früh klar. Ich erinnere mich gut an meine Initiation. Ich war 16 und las Zweigs »Schachnovelle«. Später taten durch mehrere Ich-Erzähler getragene Romane wie etwa »Der Liebhaber« von Abraham B. Yehoshua und »Horns Ende« von Christoph Hein ein Übriges. Seither haben mich viele große Bücher in meiner Entscheidung bestärkt, zuletzt »Bitter im Mund« von Monique Truong.

Ich fasse es kurz: Mich packen literarische Texte, in denen der Autor konsequent hinter seine Figuren zurücktritt. Die Figur ist der Erzähler (oder natürlich die Erzählerin), keineswegs allwissend oder auch nur Wahrheit beanspruchend, was die erzählte Welt angeht. Wohl aber Wahrhaftigkeit. Und dies ist die Verbindung zu Strasberg und seiner Methode des »Method Acting«. Indem ich es beschrieben habe, habe ich eigentlich mein Schreiben beschrieben. Es ist, müsste ich einen Begriff dafür nennen, nichts anderes als – »Method Writing«.

Darüber ließe sich nun freilich erheblich mehr schreiben – über die Parallele etwa zwischen meinem Autorenverständnis und Strasbergs »Private Moment«, die Forderung an den Schauspieler, dass er das Publikum vergessen müsse. Und die direkte Parallele zwischen der mystischen Aufgabe des »bitul azmo« und dieser Form der künstlerischen Gestaltung – handle es sich nun um Schauspielerei oder Literatur… Und damit ließe sich auch einmal poetologisch untermauern, warum Autorenporträts meinem Literaturverständnis zuwiderlaufen.

6 Reaktionen zu “Method Writing”

  1. Dorit

    „Darüber ließe sich nun freilich erheblich mehr schreiben…“ – Das ist wohl wahr bzw. da sprichste ein großes Wort gelassen aus… :-)

    Aber den Schlenker und Absatz: „Ich bin gewiß kein Naturalist…“, den verstehe ich nicht (so ganz) bzw. es erschließt sich mir nicht, worauf Du hinauswillst…

    M.E. könnte der Absatz sogar noch auf die falsche Fährte führen…, nicht zuletzt, weil: was ist ein sog. „Naturalist“ bzw. in welchem Zusammenhang und inwiefern…? Das wäre zu präzisieren, oder…?

    Stanislawski war keiner meines Erachtens bzw. nicht nur. Die sog. naturalistische Einheit auf der Bühne, nichtmal die ist „Naturalismus“.

    Und auch in der Schaupielmethode, da waren er und z.B. Michail Tschechow, trotz aller Meinungsverschiedenheiten, dichter beieinander und somit dran am „subjektiven Realismus“ etc. als man so denken könnte. Und Meyerhold nicht zu vergessen…!!!

    Also: ich müßte da (energisch) „intervenieren“ und die sog. Lanze brechen für die drei oben genannten.

    So, das mal in kürze, fürs erste und etwas „TschuldigungHolzschnittartig“… :-)

  2. Benjamin Stein

    Ich will Dir ja Deine großen Theater-Russen nicht »entwerten«. Aber kann es sein, dass Du beim geraden Blick durch die Solowjow-Brille ein wenig die Entwicklung übersiehst, die sich da vollzogen hat?

    Gegründet wurde das »Moskauer Künstlertheater« m. E. doch als programmatisch naturalistisches Theaterprojekt. Und gespielt wurde – Tschechow!

    Wie oben auch erwähnt, hatte später der Symbolismus – namentlich der junge russische – erheblichen Einfluss auf Stanislawski und die Truppe. Und da sind wir dann auch schon wieder bei Solowjow und seiner mystischen Komponente.

  3. Herr H

    Moskau, Moskau fahren wir nach Moskau, ich habe mich verirrt, Internet seis gedankt, es gibt eine Michail und es wird wohl immer einen geben, darauf trinke ich einen mit Euch, Prost

  4. Dorit

    So, mal eine Zwischenmeldung wenigstens (was Herr H. meint, weiß ich jetzt nicht, egal…)

    Mit dem Naturalismus von Stanislawski, das ist nicht so einfach zu „haben“. Aber auch nicht so wichtig. Außerdem: darauf hat man sich ja landläufig geeinigt, da wird Dir schon keiner an den Karren kommen.

    Michail Tschechow, Meyerhold etc., die lassen wir jetzt mal weg (Sorry, daß ich damit von der Sache und Deinem Text wegführte, und noch mehr Verwirrung stiftete…) :-)

    Ist wahrscheinlich dadurch induziert, daß ich Dich, wenn schon bei Schaupielmethoden, dann doch eher bei Meyerhold und Michail Tschechow „verorten“ würde als bei Stanislawski und Strasberg (ausgerechnet).

    Nein, ich gucke nicht durch die Solowjow-Brille. Warum sollte ich…? Der war doch gar kein Mann des Theaters… :-) Was ich mir „vorzuwerfen“ hätte, wäre, zu sehr durch die Theater-Brille geschaut zu haben. Tschuldigung, hier geht’s ja ums Schreiben, nicht ums (Schau)Spielen.

    Tja, und bei Tschechow (Anton), da werde ich dann doch „rebellisch“ geradezu. Weil: der ist so gar kein Naturalist. Im „Gegenteil“.

    Die Stücke kann man naturalistisch gar nicht inszenieren und spielen…! (Natürlich kann man auch das, keine Frage; es gab genug Versuche, zugegeben auch vom MChAT; aber alle gescheitert.)

    Wir kommen der Sache aber ggf. näher, wenn ich verstehe, warum Du überhaupt mit Stanislawski eröffnest…? – Meines Erachtens „brauchst“ Du die Naturalismus-Folie, das Sprungbrett Stanislawski, doch gar nicht für Deine Ausführungen, oder…?

    Richtig, das Moskauer Künstlertheater spielte Tschechow, dem gleichen „Irrtum“ erlegen, daß seine Stücke naturalistisch seinen (sind sie durchaus, aber eben nicht nur bzw. nicht in erster Linie), und ihnen auch so inszenatorisch und schauspielerisch „beizukommen“ wäre.

    Summa summarum: es ist ein weites Feld. Wahrscheinlich kann ich mich auch gerade nicht verständlich machen. Das möge man mir dann bitte nachsehen…

    So mir raucht der Kopp, ich kieke jetzt mal ins Fußball-Spiel ‚rein… :-)

  5. Dorit

    Lieber Benjamin,
    ich habe nochmal alles sacken lassen und ziehe meine Kommentare zurück, und zwar insofern, als daß sie Dich nicht wirklich „vorwärts“ bringen.

    Tschuldigung, ich bin ja mal wieder mächtig über’s Ziel hinausgeschossen, oder…? :-)

    Nun mach‘ ich mal „Schadenbegrenzung“…:

    Die Methoden, die Stanislwaski, Strasberg für’s Schauspiel, und erster Linie für den Schauspieler, entwickelt haben, die mußt Du in Deiner „Selbstdarstellung“ für das Programmheft natürlich NICHT problematisieren.

    Das entscheidende ist m.E., daß Du Dir zwei dieser Methoden für’s „schreiberische“ Herantasten an Figuren etc. fruchtbar gemacht hast. Das ist ja das wichtige und „originelle“ bzw. Deine originäre Leistung…!

    Und das mit dem Anton Tschechow und seinen Stücken, das besprechen wir mal bei Gelegenheit – natürlich nur wenn Du Lust bzw. Muße hast dazu, und überhaupt (eilt ja nicht)

    Du hattest ggf in der Hauptsache sein erzählendes Werk im Blick, oder…?

    Wie auch immer. Und wie sehr problematisch die Methoden von Strasberg in ihrer konkreten Ausgestaltung für den konkreten Schauspieler waren bzw. sind, das läuft uns auch nicht weg (zumal es Dich auch gar nicht berühren muß, im Sinne des Fruchtbarmachens solcher Methoden für den Schriftsteller…).

    Da hätten wir nämlich das Problem des „Lenkens, Leitens und Begleitens“ solcher Prozesse. „Seelenstriptease“ mit Schauspielern zum Zweck der Rollenaneignung, das ist schnell verfehlt, gefährlich und auch am Ziel vorbei. Aber das ist wieder und nochmal eine ganz andere Geschichte…

    Nebenbei: das setzen Meyerhold und Tschechow (Michail) nochmal und ganz anders an, geben nicht zu vernachlässigende Impulse, und setzen nicht nur Akzente. – Sorry, nu bin ich schon wieder „abgeschwiffen“… ;-)

    So, das habe ich mir von neulich bis heute so überlegt…! – Insofern: Frieden…?

  6. Benjamin Stein

    Frieden…?

    Aber isch habe gar keine Krieg, Signorina…

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