Bibel und Koran (IV)

30. Juni 2010

Nähe und Unvereinbarkeit zweier Konzepte
Ein Gastbeitrag von Chaim Noll

Menschenbild

»Gott ist gütig gegen alle, und sein Erbarmen waltet über all seinen Geschöpfen«, heißt es in Psalm 145,9. In dieser Textstelle wird – stellvertretend für viele – das entscheidende Kriterium des biblischen Menschenbildes ausgesprochen: die Gleichwertigkeit aller Menschen vor dem Schöpfer. Das Volk der Bibel hält sich nicht für besser oder moralischer als andere Völker und Religionen. Die hebräische Bibel versucht nirgendwo, Israel zu glorifizieren. Eher im Gegenteil: alle seine Schwächen und Verfehlungen werden in einer Offenheit dargestellt, die nicht wenige Judenfeinde zu dem irrigen Eindruck verführt, es handle sich um ein schwaches, von seinem eigenen Gott »verworfenes« Volk. Auch Mohamed, der seinerseits eine gänzlich andere Selbstdarstellung zelebrierte, verfiel dieser Täuschung.

Die »Erwähltheit« des biblischen Volkes ist als Verpflichtung gemeint, als kritischer Anspruch an sich selbst, nicht als Erhöhung über andere. Der Text betont, dass die Flüchtlinge aus Ägypten, die am Berg Sinai das Gesetz empfingen, nur zu einem Teil Hebräer waren, zum anderen Teil Unterdrückte und Verzweifelte anderer Völker, die sich ihnen angeschlossen hatten, im hebräischen Original erev rav(50), a mixed multitude in der Übersetztung der King James Bible, fremdes Volk in der Luther-Bibel, und diese Fremden »stiegen mit Israel auf«, wie das Verb alah im Hebräischen wörtlich meint, sie nahmen das Gesetz an wie die Hebräer, und schon von daher ist das Sein und Wesen Israels seit seiner eigentlichen Geburtsstunde mit Fremden verbunden.

Den Fremden sollt ihr nicht bedrücken, heißt es immer wieder in den Mosaischen Büchern, denn ihr seid selbst Fremde gewesen in Ägypterland(51). Das Ägypten-Erlebnis wird leitmotivisch wach gehalten, als stehende Formel an prominenter Stelle, sogar im ersten der »Zehn Gebote« – zur Erinnerung an eigene Schwäche und Hilfsbedürftigkeit. Das im biblischen Text allzeit angemahnte Bewusstsein eigener Fehlbarkeit macht das »Volk des Buches« duldsam gegenüber denen, die »anders« sind. Seit den Mosaischen Büchern betont das jüdisch-christliche Konzept als essentiellen Bestandteil seines Wesens die Rücksicht auf die sonst Verachteten, zum einem die Fremden, zum anderen die Schwächeren im eigenen Volk. »Was ist der Inbegriff aller Religion und der Inbegriff der Gotteslehre selbst?«, fragt der jüdische Philosoph Hermann Cohen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. »Liebe deinen Anderen, und du bezeugst, dass du Gott liebst. So hat (Rabbi) Hillel die Quintessenz der Religion einem Heiden gegenüber bezeichnet und so auch Jesus auf die Frage der Schriftgelehrten«(52).

Diese für die Völker der alten Welt unübliche Wertschätzung des Anderen – gemeint im Sinne von »Anderssein« – begann bei den Frauen. Die zunächst im ersten Buch Mose 3,16 ausgesprochene, von den frühen Völkern als »gottgewollt« angesehene Superiorität des Mannes gegenüber der Frau wird schon wenig später im selben Buch für die hebräischen Patriarchen korrigiert(53). Es gehört zum biblischen Verständnis der Schöpfung als eines immerwährenden, in ständiger Bewegung befindlichen Vorgangs, dass solche Entwicklungen möglich sind und im Text vollzogen werden(54). In der Abraham-Sarah-Geschichte wird dem Stammvater von seinem Gott geboten, fortan auf seine Frau zu hören: »In allem, was dir Sarah sagt, höre auf ihre Stimme«(55). Die Aufforderung erfolgt in derselben sprachlichen Formel – im Hebräischen sh’ma b kolah – mit der sonst geboten wird, auf das Wort Gottes oder seiner Sendboten zu hören(56).

Von da an ist in der biblischen Welt die Unterwerfung der Frau unter den Willen des Mannes aufgehoben, zumindest in Frage gestellt. Wo sie dennoch gesellschaftliche Gepflogenheit blieb, konnte sie jedenfalls nicht mehr für »gottgewollt« erklärt werden. Die Behauptung der Gottgewolltheit eines solchen Vorrechts wird in der hebräischen Bibel nirgendwo mehr erhoben. Zwei Stellen im Neuen Testament, in Briefen des Paulus, die einen Aufruf zur Unterordnung der Frau enthalten, berufen sich gleichfalls nicht auf Gottes Wort, sondern geben die Ansicht des Apostels wieder(57).

Auch über den Fremden oder Andersgläubigen besteht nach biblischem Verständnis kein gottgewolltes Vorrecht des »Gläubigen« – so wie kein gottgewolltes Vorrecht des Mannes gegenüber der Frau besteht. Beide Relationen werden oft im biblischen Text verknüpft, das Verhältnis zu den Fremden und das zu den Schwächeren im eigenen Volk, zu den Frauen und Kindern, den ökonomisch Abhängigen und Unfreien, meist in der Metapher ihrer ohnmächtigsten, schutzbedürftigsten Gruppe, der »Witwen und Waisen«(58). Rabbi Shimeon ben Jizhak von Troyes (genannt Rashi) weist in seinem Torah-Kommentar darauf hin, dass »Witwen und Waisen« eine Chiffre für alle »Anderen« ist, für alle, deren Machtlosigkeit die Stärkeren dazu verführt, sie schlecht zu behandeln, davar mazui l’anotam(59).

Im Besonderen wird in der Bibel das Verhältnis zu denen geregelt, die anderen Glaubens sind. Schon zu antiken Zeiten lebten sie zahlreich unter den Juden, als »dein Fremder, der in deinen Toren wohnt«(60) und wurden (und werden bis heute) in jüdische Segenssprüche eingeschlossen, sogar in den Shabat-Segen(61). Der gelegentlich vehemente Kampf (etwa des Propheten Eliahu oder Elias im Buch Könige) gegen fremde Götzenkulte galt immer nur Israel selbst, nicht anderen Völkern. Die biblische Toleranz gegenüber allen Andersgläubigen wird im Buch des Propheten Micha 4,5 verbindlich formuliert: »Mag jedes Volk im Namen seines Gottes wandeln, während wir im Namen unseres Gottes wandeln werden für immer«.

Das jüdische Toleranzgebot besteht unverändert bis in unsere Zeit, es war das Muster der antiken tolerantia, wie sie der Judenfreund Alexander der Große und der Judenfreund Julius Caesar in ihren Reichen zu installieren suchten, es ist auch das inspirierende Erinnerungsgut für die Toleranz der modernen westlichen Gesellschaft. Toleranz ist ein Kontinuum, an dem das biblische Judentum immer festgehalten hat, auch in Zeiten extremer Bedrückung durch andere Völker. Der Bund des biblischen Volkes mit Gott gilt nur für die, die durch Geburt darin einbezogen sind oder sich freiwillig anschließen. Die übrige Menschheit mag andere Zugänge zu Gott oder Göttern finden, sie gilt als gerechtfertigt durch die noachidischen Gesetze oder die Disziplin ihrer jeweiligen Religionen(62).

Unter Berufung auf andere Stellen der hebräischen Bibel(63) ermutigt das Neue Testament zu einer friedlichen Mission unter Andersgläubigen. Sie entwickelte sich aus ihren noch ganz auf inner-jüdische Mission bezogenen Anfängen, etwa in Matthäus 10,5, zu jenem »Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker« am Ende desselben Evangeliums (28,19). Alle der Mission geltenden Textstellen im Neuen Testament meinen ohne Zweifel die Bekehrung von Individuen, nicht ihre massenhafte Unterwerfung oder das Erobern von Gebieten. Der Text der Evangelien äußert keine Drohungen oder Strafen gegenüber denen, die sich der Bekehrung entziehen. Missbräuche seitens der Kirchen ändern nichts an der ursprünglichen christlichen Idee einer spirituellen Überzeugungsarbeit ohne gewaltsamen Nachdruck.

Die Position von Gott geduldeter, sogar in die Gottesliebe einbezogener Fremder gibt es im Koran nicht. Der Begriff des Andersgläubigen ist dem Koran unbekannt, folglich gibt es auch keine Toleranz ihm gegenüber. Die Menschheit ist dort getrennt in Gläubige, denen die Gnade, Barmherzigkeit und Anleitung Allahs gelten, und Ungläubige, die nicht nur davon ausgeschlossen sind, sondern die der Gott des Islam in leitmotivischer Eindringlichkeit zu strafen und von der Erde zu vertilgen droht(64). Zwar zitiert Sure 109, Vers 5, fast wörtlich das oben genannte biblische Toleranz-Edikt aus Micha 4,5, doch bleibt es leere Deklaration angesichts der permanent verkündeten Strafen gegenüber denen, die nicht mit Mohamed übereinstimmen.

Die Bestrafung soll sowohl durch seinen Gott erfolgen als auch durch die Muslime. Neben den zahlreichen Stellen im Koran, die von Gott auferlegte Strafen und Torturen für Ungläubige beschreiben, sei es in dieser, sei es in der kommenden Welt, gibt es auch die direkte Aufforderung an die Muslime, etwa in Sure 8 Vers 12: »Trefft sie oberhalb des Nackens und schlagt ihnen jeden Finger ab«. Oder den in Sure 4, Vers 105 ergehenden Aufruf zur Jagd auf Ungläubige: »Und lasst nicht nach, die Ungläubigen aufzuspüren.« Auch ein Muslim, der sich ihrer erbarmt, ist strafwürdig, wie es zwei Verse später in derselben Sure heißt: »Rede nicht zu Gunsten der Betrüger, Gott liebt nicht den verwerflichen Verräter.«

Wo es keine von Gott tolerierten Andersgläubigen gibt und keine anderen Wege zu Gott als den des Islam, kann es auch keine Gleichwertigkeit der Menschen vor dem Schöpfer geben. Das Konzept des Koran vom menschlichen Zusammenleben ist eine klare, sozusagen heilige Hierarchie, eine Unterteilung der Menschheit in zwei Klassen. Mensch erster Klasse ist nach Mohameds Lehre der gläubige muslimische Mann, neben ihm werden sowohl Frauen als auch Nicht-Muslime zu Menschen zweiter Klasse. Die Frauen werden es dadurch, dass im Koran die Gottgewolltheit der männlichen Superiorität wieder eingeführt wird, jene archaische Vorstellung der frühen Völker, aus welcher das Gesetz vom Sinai herauszuführen sucht. Die in der Bibel entwickelte Idee einer Gleichwertigkeit der Geschlechter wird von Mohamed nicht aufgegriffen, das in den mosaischen Büchern ausgearbeitete System zur Sicherung der Rechte der Frauen fast völlig ignoriert. In Mohameds Gesetz gilt eine Frau nicht einmal als selbständige juristische Person. Allah hätte, heißt es in Sure 4,38, den Männern Vorrang verliehen, auch das Recht, alle Angelegenheiten der Frauen zu bestimmen, und erwarte von den Frauen Gehorsam. Werde dieser verweigert, solle der Mann die Frau züchtigen. (Wörtlich heißt es sogar, dass eine Frau bereits dann von ihrem Ehemann zu züchtigen sei, wenn dieser auch nur befürchtet, sie könne widerspenstig sein, d.h. es genügt ihre potentielle Unbotmäßigkeit(65)).

Die der Frau zugedachte Rolle beschreibt Sure 2, Vers 223: »Eure Frauen sind euch ein Saatfeld. Geht zu diesem Saatfeld, wann immer ihr wollt.« Bereits die metaphorische Gleichsetzung eines Menschen mit einem Saatfeld, dem Inbegriff des Passiven, des Nährbodens und Schoßes, aus dem neues muslimisches Leben hervorgeht, ist mit unserem Menschenbild unvereinbar. Sie wird noch übertroffen durch die Aufforderung zu vollständiger Willkür im Umgang mit dem zu passiver Hinnahme verurteilten Wesen. Nicht einmal so viel Recht soll der Frau gelassen werden, dass sie wenigstens den Zeitpunkt der männlichen Beiwohnung bestimmen darf. Nach westlichem Rechtsverständnis ist dieser Koran-Vers ein Aufruf zur Vergewaltigung. Die Metapher vom Saatfeld mit dem Zusatz »Wann immer ihr wollt« ist die sprachliche Formel für völlige Entrechtung, in unseren Augen Enthumanisierung der Frauen.

Wie wenig eine Frau im Koran als Persönlichkeit und Einzelwesen verstanden wird, belegt der Umstand, dass einzelne Frauen – jenseits der Sammelbezeichnung al-nisa, Frauen – nicht in Erscheinung treten. Im gesamten Koran-Text wird nur eine einzige Frau namentlich erwähnt, und diese Einzige ist auch noch der Bibel entnommen: Maria, die Mutter Jesu(66). Wenn man bedenkt, welche prominente Rolle Frauen in der Bibel spielen, als Prophetinnen, Königinnen, Führerinnen des Volkes, als Mütter und Partnerinnen, als Symbole der Tapferkeit, Klugheit und Retterinnen in der Not, welchen Reichtum an unvergesslichen Frauengestalten die Bibel entfaltet, Frauen, die über Juden- und Christentum hinaus im Kulturbewusstsein der Menschheit unverzichtbar geworden sind, dann vertritt der Koran, in dem es überhaupt keine Frauenfiguren gibt (außer einer einzigen, der Bibel entliehenen) hier das diametrale Konzept zum biblischen.

Das Menschenbild des Koran ist kein freies, sondern ein hierarchisches, von vornherein politisch geprägtes. Die viel zitierte Toleranz islamischer Herrscher, etwa zur Zeit der Okkupation Spaniens, kann nur vor dem Hintergrund dieser Hierarchie verstanden werden. In islamisch beherrschten Ländern gibt es keine Toleranz unter Gleichen. Da der jihad, der Heilige Kampf, wie er der »Gemeinschaft der Gläubigen« geboten ist, nicht primär die Missionierung der Ungläubigen zum Ziel hat, sondern die territoriale Ausdehnung des Reiches der Gläubigen, des dar al-islam, verhält sich die herrschende muslimische Männerkaste, wenn das fremde Gebiet einmal erobert ist, weitgehend indifferent gegenüber den Unterworfenen. Diese müssen das Steueraufkommen des Gebiets erbringen und andere Kontributionen und Menschenopfer entrichten, wie etwa im Osmanischen Reich den Knabentribut, und solange sie es tun, lässt man sie weitgehend bei ihren Sitten und Gebräuchen.

Der Knabentribut (devsirme) ist ein Beispiel für die im Osmanischen Reich üblichen Opfer der unterworfenen Völker: »Alle paar Jahre gingen die Ottomanen in ein, sagen wir, serbisches Dorf und griffen sich dort die kräftigsten und klügsten Jugendlichen (…) In der Türkei absolvierten diese eine anstrengende sieben Jahre dauernde Ausbildung: schwere körperliche Arbeit zur Kräftigung ihrer Körper, Unterweisung im Islam und in der türkischen Sprache. Jene, die sich in Sport und Kriegskunst hervortaten, wurden als Kadetten des Janitsharen-Korps ausgesucht, als ‚Männer des Schwertes’. Ihrer Familienbindungen beraubt, kannten sie keinen Interessen-Konflikt und waren loyal nur dem Sultan gegenüber.«(67) Max Weber nannte eine auf Sklavendienst basierende Herrschaftsform folglich »Sultanismus«: »Im Sultanismus rekrutiert der Herrscher seinen Stab aus Ausländern und Sklaven. Weil diese in der Gesellschaft, die zu regieren sie helfen, wenig Rückhalt haben, sind sie auf die Gnade ihres Herrn angewiesen. Deshalb sind Ausländer und Sklaven die besten Werkzeuge für Willkürherrschaft.« Nach M. Severy waren acht der Großwesire von Sultan Suleiman geborene Christen, die man als Kindersklaven in die Türkei gebracht und zu Muslimen gemacht hatte(68).

Doch die Ausbildung zu Werkzeugen des Herrschaftsapparates ließ die herrschende muslimische Männerkaste nur wenigen angedeihen. Gegenüber der großen Masse der Unterworfenen blieb sie, was deren Glauben betraf, relativ gleichgültig. Der Historiker Henry Pirenne nennt den wohl wichtigsten Grund: »Allah ist der Einzige Gott«, heißt es in seinem Buch »Mohammed and Charlemagne«, einem Standardwerk über die islamische Invasion Europas im 8. Jahrhundert, »und daher wäre es logisch, dass seine Diener [die muslimischen Männer – Chaim Noll] es als ihre Pflicht verstehen, die Ungläubigen zum Gottesgehorsam zu zwingen. Was sie jedoch beabsichtigten, war nicht, wie man denken könnte, deren Konversion, sondern ihre Unterwerfung.«(69) Das vorrangige Interesse der Eroberer bestand in der Einführung der islamischen Zwei-Klassen-Ordnung in den eroberten Ländern, eines Systems von Tributzahlungen und Sklaverei. Massenhafte Konversion der Unterworfenen zum Islam hätte bedeutet, dass diese den gleichen Status erlangten wie ihre Eroberer, womit die religiöse Legitimation entfallen wäre, sie weiterhin rücksichtslos auszubeuten und als Sklaven zu halten.

Anders verhält es sich in nicht islamisch beherrschten Gebieten. Hier ist das Gewinnen von Konvertiten »eine permanente Pflicht« des gläubigen Muslim, der individuelle Teil des Gebots vom jihad(70). Solange die muslimische Männerkaste nicht die politische und militärische Herrschaft des Gebietes gesichert hat, zählt jeder einzelne Proselyt. Ob im Falle von Sklaven mit der Konversion notwendigerweise ihre Freilassung verbunden ist, bleibt unausgesprochen. Der Koran erwähnt die Möglichkeit »gläubiger Sklavinnen« (Sure 2 Vers 220, Sure 4 Vers 29). Eine im Hadith festgehaltene Überlieferung des Abu Musa teilt mit, der Prophet hätte dem, der sie freilässt, »doppelten Lohn« verheißen, was jedoch nicht notwendig bedeutet, dass Freilassung geboten war(71). Auch solle man, so der Koran, Sklavinnen nicht zur Prostitution zwingen (Sure 24, 34).

Insgesamt bleiben die Angaben zum Umgang mit Sklaven im Koran spärlich und sehr viel unklarer als die Regulierungen der Bibel. Das Mosaische Gesetz bemüht sich, die lebenslange Sklaverei, eine sonst in der antiken Welt selbstverständliche Einrichtung, einzuschränken, wenn nicht zu unterbinden. Im Fall hebräischer Fronarbeiter gebietet der biblische Text ausrücklich, diese spätestens im siebenten Jahr freizulassen und bei der Freilassung mit den Mitteln zu versehen, die ihnen einen selbständigen Start ermöglichen (5 Moses 15,12). Generell sollen Unfreie – ob im Land geboren oder fremd – human behandelt werden: »Du sollst dem armen und dürftigen Tagelöhner unter deinen Brüdern oder den Fremden, die in deinem Lande, in deinen Toren sind, den Lohn nicht vorenthalten. Am selben Tage sollst du ihm seinen Lohn geben, die Sonne darf darüber nicht untergehen.« (5 Moses 24, 14). Der Eintritt eines Sklaven ins Judentum (ger zedek) führte automatisch zu der (in 2 Moses 21,2 und 5 Moses 15,12-18) gebotenen Freilassung. Entsprechend hielten es später die Christen in Rom. Besonders im Umgang mit kriegsgefangenen Frauen fremder Völker zeigt das Mosaische Gesetz eine dazumal einzigartige Rücksicht, indem es dem hebräischen Mann gebietet, diese entweder zu heiraten oder freizulassen (5 Moses 21, 11 ff.).

In den humanen Gesetzen gegenüber Unfreien und Fremden lag einer der revolutionären Aspekte, die den jüdischen, später christlichen Glauben so anziehend für die Sklaven des römischen Imperiums machten, welche ihm in großen Scharen zuströmten. Dagegen schafft der Koran durch das »gottgewollte« Privileg der Gläubigen gegenüber den Ungläubigen einen unangreifbaren Vorwand für das Prinzip lebenslanger Versklavung. »Mit dem Islam«, findet der deutsche Orientalist Hans-Peter Raddatz, »wird der Herrschaftsanspruch des Menschen über den Menschen welthistorisch reaktiviert«.(72)

Die im dar al islam »gottgewollt« herrschende muslimische Männerkaste fühlt sich zur Unterwerfung aller Anderen von daher legitimiert, als sie selbst ihr Leben in totaler Unterwerfung verbringt, unter den Willen Allahs, wie es im Wort islam zum Ausdruck kommt. Wegen der gebotenen Selbstaufgabe weiche das Menschenbild gläubiger Muslime grundsätzlich von westlichen Vorstellungen ab, stellt der Politikwissenschaftler Heinz Theisen fest, die Bestimmung der Muslime liege »nicht in der Selbstentfaltung, sondern in ihrer durch Allah gegründeten Vereinigung als Gleiche ohne sonstige Unterschiede. Der einzige prinzipielle Unterschied besteht in der Trennung zwischen Gläubigen und Ungläubigen.«(73) Ein besonders drastisches Beispiel für den Wegfall jeglicher Individualisierung im Koran-Text ist die schon erwähnte Abhandlung des Themas »Frauen«: ohne eine einzige Frau (mit der erwähnten Ausnahme Maria) als Person zu erwähnen oder auch nur mit einem Namen zu benennen.

Aus dem Verständnis bewusster Selbstaufgabe ergibt sich eine weitere Unvereinbarkeit des koranischen Konzepts mit dem biblischen: die Frage betreffend, ob dem Menschen von Gott die Freiheit der Entscheidung zugestanden wird. Schon frühe jüdische und christliche Quellen weisen auf diesen Unterschied zwischen biblischem und islamischem Denken hin, etwa der berühmte Dialog des Johannes von Damaskus mit einem Sarazenen, ein christlicher Text aus dem 8. Jahrhundert. Der Christ Johannes von Damaskus erklärt den biblischen Standpunkt, wie in 1 Moses 3,22, 5 Moses 30,19 u.a. dargelegt: dass Gott dem Menschen die »freie Wahl« zwischen dem Guten und dem Bösen überlassen hätte. Darüber zeigt sich sein muslimischer Gesprächspartner erstaunt: nach seinem Dafürhalten sind alle Handlungen der Menschen, gute wie böse, bis ins Detail von Allah vorherbestimmt. Sein Erstaunen reflektiert die Haltung der orthodoxen islamischen Theologie, etwa des Jahm ibm Safwam, eines Zeitgenossen des Johannes, der lehrte, »dass der Mensch eine bloße Marionette sei, bis in den Mechanismus seiner Bewegungen von Gott abhängig«(74). Das Gegenargument des Johannes war, dass der Mensch, falls ihm Gott nicht freien Willen zugestanden hätte, auch nicht für seine Untaten verantwortlich gemacht werden könne, sich folglich der Widerstand gegen das Böse in dieser Welt erübrige.

Es sei erwähnt, dass die Lehre Buddhas hier die gleiche Position vertritt wie die jüdisch-christliche. Ihr Plädoyer für den freien Willen des Menschen erfolgt in einer unwiderstehlich logischen Ableitung, die auch das heutige existenzielle Elend vieler islamischer Länder erklärt: »Wenn alles durch höhere Fügung entschieden wird, dann sind gute wie böse Taten vorherbestimmt; nichts geschieht, was nicht zuvor schon feststand. Dann würden auch alle menschlichen Pläne und Bemühungen um Verbesserung und Fortschritt vergeblich sein, und die Hoffnung auf Menschlichkeit wäre vergebens (…) Es ist kein Wunder, dass Menschen, die dieser Vorstellung verhaftet sind, alle Hoffnung verlieren und ihre Bemühungen vernachlässigen, weise zu handeln und Böses zu vermeiden.«(75)

Die Sicht Buddhas stimmt mit der jüdisch-christlichen darin überein, dass wir Menschen mit der Aufgabe unseres freien Willens unseren Widerstand gegen das Böse einbüßen und damit unsere Hoffnung, einen entscheidenden Impetus des Lebens. Direkte Folge der religiös motivierten Hoffnungslosigkeit ist die Vernachlässigung des individuellen Menschenlebens, zunächst der Qualität des Lebens, dann des Lebens selbst – wohl eins der für Außenstehende befremdlichsten Phänomene der islamischen Sphäre. Es zeigt sich nicht nur in den Selbstmordattentätern, die sich offenbar freudig für eine in unseren Augen sinnlose Sache opfern wie das Zünden von Bomben und Töten anderer Menschen (auch anderer Muslime), sondern – für uns noch unbegreiflicher – in der seltsamen Schicksalsergebenheit großer Menschenmassen, die despotische Herrscher, Gewalt und Korruption, ein Leben in Elend und Bevormundung ohne Widerstand erdulden.

In der Geringschätzung des eigenen Lebens liegt nach biblischer Vorstellung eine Missachtung der Werke des Schöpfers. Daher wird in der Bibel auch der Selbstmord abgelehnt: unter Berufung auf 1 Moses 9,5 gilt Selbsttötung als Tötung menschlichen Lebens, der Selbstmörder folglich – von wenigen Ausnahmefällen abgesehen – als Mörder. »Gott (…) verweigert uns das Recht, Herr über welches menschliche Blut immer zu sein, unser eigenes eingeschlossen«, schreibt Rabbi Samson Rafael Hirsch in seinem Kommentar zu dieser Torah-Stelle(76). Die Bewahrung von menschlichem Leben ist daher höchstes jüdisches Anliegen, ausdrücklich ist zur Rettung eines einzelnen Menschenlebens (pikuach nefesh) die Verletzung anderer Gebote erlaubt. Es wird davon abgeraten, sich im Sinne strikter Ausübung der Gebote in Lebensgefahr zu begeben, also alle Formen lebensbedrohlicher Askese, Bußübung oder Geißelung, ferner Martyrien um der Einhaltung der Gebote willen – da die Gebote grundsätzlich, nach 3 Moses 18,5 u.a., Quelle des Lebens sein sollen.

Im Islam wird dagegen für ein mit der Tötung anderer Menschen verbundenes Selbstopfer »gewaltiger Lohn« verheißen, es wird sogar einem Sieg gleichgesetzt(77). Diese Art Märtyrertum, shahid, ist mit dem biblischen Menschenbild unvereinbar, auch wenn es im Christentum, vor allem in seiner frühen Phase, zahlreiche Martyrien gegeben hat: sie galten jedoch nicht, wie im Islam, der Tötung anderer, im Gegenteil, meist deren Rettung. Ein aus christlicher Sicht achtbares Selbstopfer jüngerer Zeit war die Tat des Paters Maximilian Kolbe, der sich in Auschwitz für einen jüdischen Mithäftling und Vater mehrerer Kinder opferte, indem er an dessen Stelle in den Hungerbunker ging. Es handelt sich um eine in Motiv und Wirkung genau entgegengesetzte Art von Selbstopfer als bei islamischen Selbstmordattentätern.

Das Martyrium des shahid ist die intimste Form des Menschenopfers. Geringschätzung des eigenen Lebens impliziert die Geringschätzung von menschlichem Leben überhaupt, das Selbstopfer verschafft dem Opfernden eine Pseudo-Legitimation zum Opfern anderer. Diese Haltung wird vom Koran gepriesen. Im Gegensatz dazu lehnt der Gott der Bibel jegliches Menschenopfer ab. Als Abraham seinem Gott den eigenen Sohn opfern wollte, eine in der Alten Welt übliche Praxis, sandte der biblische Gott einen Engel, um ihn daran zu hindern (1 Moses 22, 1-19). Hierin lag die erste revolutionäre Botschaft der Bibel, der Grundstein des humanen Zeitalters. Mit der Belohnung des shahid – zumal, wo es mit der Tötung anderer verbunden ist – hat der Islam die Rückkehr zum Menschenopfer vollzogen und die Botschaft der Bibel aufgehoben.(78)

© Chaim Noll (2007)
wird fortgesetzt…

  • (50) 2 Moses 12,38
  • (51) 2 Moses 22, 20; 2 Moses 23,9; 3 Moses 19,33-34; 5 Moses 24,14 u.a.
  • (52) Hermann Cohen, Was einigt die Konfessionen? Rede, 1917, zit.n. E.L.Ehrlich, Toleranzbegriff im Judentum, Jüdische Zeitung Berlin, 1/2007
  • (53) vgl.Chaim Noll, Höre auf ihre Stimme. Die Bibel als Buch der Frauen, Mut, Asendorf 2 und 3/2005
  • (54) Dem Judentum gilt die Schöpfung als perpetualer, in ständiger Erneuerung befindlicher, niemals endender Vorgang, gemäss dem ersten der dreizehn Glaubensartikel des Maimonides (Rabbi Moshe ben Maimon), vgl. Rabbi Nosson Scherman (Ed.), The Complete Art Scroll Sidur, New York 1984, p.178
  • (55) 1 Moses 21,12
  • (56) vgl. Chaim Noll, Höre auf ihre Stimme, a.a.O.
  • (57) Erster Brief des Paulus an die Timothäer 2,11 f., Brief an die Epheser 5, 22f.
  • (58) Verbindung Schutz der Fremden-Schutz der Witwen und Waisen: 5 Moses 24,17; 5 Moses 24,20 u.a.
  • (59) Rabbi Shimeon ben Izhak, genannt Rashi, Kommentar zu 2 Moses 22,21, vgl. The Pentateuch and Rashi’s Commentary, New York, 1977, p.262
  • (60) 2 Moses 20, 10
  • (61) Einbeziehung des Fremden in den Shabat-Segen bedeutet, dass diesem das Privileg des freien Tages zugestanden wird wie einem Landeskind und Juden, eine in der Antike einzigartig humane Regelung. Seneca und andere Römer fürchteten den wirtschaftlichen Verlust und wandten sich gegen den Shabat. Vgl. Chaim Noll, Höre auf ihre Stimme, a.a.O., Fußnote 32
  • (62) Noachidische Gebote meint die Gebote des mit Noah nach der Sintflut geschlossenen Bundes, 1 Moses 9,1-7, die nach jüdischer Auffassung den für alle Menschen gültigen minimalen Moralkodex bilden sollten. Vgl. Rabbi J.H.Hertz, The Pentateuch and Haftorahs, London 1992, p.32
  • (63) Die Idee einer Mission «unter den Völkern« kann sich berufen auf Psalm 96: sapru va gojim k’vodo oder fast gleichlautend 1 Chronik 16, 24, welche Formel die Luther-Bibel übersetzt mit: »Verkündet unter den Heiden seine Herrlichkeit«
  • (64) Über die nach Mohameds Darstellung den »Ungläubigen« zugedachten göttlichen Strafen : Sure 2, Vers 189ff., Sure 3 Verse 103, 126, Sure 4, Verse 45, 50, 59, Sure 8 Vers 12, Sure 9 Vers 5 u..a.
  • (65) vgl. Muhammed Ahmad Rassoul, Die ungefähre Bedeutung des Quran Karim in deutscher Sprache, Köln o.J. Im gleichen Sinne übersetzt auch Arthur J.Arberry, The Koran Interpreted, New York, 1977, p. 105. Im Mosaischen Gesetz wird derlei Selbstjustiz ausgeschlossen. Wo Strafen gegen Frauen zu verhängen sind (im Fall von Rechtsbrüchen), geschieht es durch Gerichte, nicht durch Ehemänner.
  • (66) Sure 19. Vgl. Ruth Roded, Women in Islam and the Middle East. London, New York 1999, p.27: «There is one woman actually named in Koran.«
  • (67) Vgl. Merle Severy, The World of Suleyman the Magnificent. National Geography, 11/1987, p.552 ff.
  • (68) vgl.Erich Weede, Freiheit und Islam – ein Widerspruch? liberal, Berlin, November 2006, S.9., M.Severy, a.a.O.
  • (69) Henri Pirenne, Mohammed and Charlemagne, London, 1939, p.150
  • (70) Maulana Muhammad Ali, A Manual of Hadith (Arab/English), London and Dublin, 1977, p.252
  • (71) ebenda, p.33
  • (72) Hans-Peter Raddatz, Assisi und Zurück, Dialog mit Allah im Spiegel der Päpste, in: Die neue Ordnung, 3/2006, Jg.60, S.8
  • (73) Heinz Theisen, Kulturelle Grenzen der Demokratisierung. Mut, Asendorf, 456, August 2005, S.26. Die Orientalistin Annemarie Schimmel drückte denselben Tatbestand euphemistischer aus: »Im Islam soll sich der Mensch in das Gewebe der Gesamtheit einfügen«, vgl. Der Westen und die Welt des Islam, Mut, Asendorf 10/1995, S.65
  • (74) zit.nach Morris S.Seale, a.a.O., p.64
  • (75) Die Lehre Buddhas, Tokyo, 1966, S. 45
  • (76) The Pentateuch with the Commentary of Rabbi Samson Raphael Hirsch, New York, 1997, p.46
  • (77) Sure 4,74: Und wenn einer für Allahs Sache kämpft und wird getötet oder siegt, dem werden wir gewaltigen Lohn geben. Sure 4,79 f. erklärt das irdische Leben für nicht wert, daran zu hängen, außerdem müsse der Mensch ohnehin sterben.
  • (78) vgl. H.P.Raddatz, a.a.O., S.7 ff.

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