••• Ich überlege, ob ich nicht ein paar Etüden schreiben sollte, Übungstexte, um ganz bestimmte handwerkliche Problemstellungen durchzuexerzieren. Wie man mit wenigen Worten erzählend einen Konflikt umreißt etwa. Oder wie man mit wenigen »Pinselstrichen« eine Figur beschreibt – äußerlich wie innerlich.
Als Maria Schrader letztens in den »Vorlesern« von den Erzählungen Tschechows schwärmte, nahm ich sie mir mal wieder vor, und diese Lektüre hat mir einige einprägsame Momente Demutserfahrung beschert.
Zwei enorm »ökonomische« Auftakte seiner Erzählungen will ich zitieren.
Hier der erste:
Man erzählte, daß am Badestrand ein neues Gesicht aufgetaucht sei: eine Dame mit einem Hündchen. Dmitrij Dmitritsch Gurow, der schon zwei Wochen in Jalta lebte und sich hier bereits eingewöhnt hatte, begann sich ebenfalls für neue Gesichter zu interessieren. Als er im Pavillon bei Vernet saß, sah er, wie eine junge Dame über den Strand ging, eine Blondine mittleren Wuchses, im Barett; ein weißer Spitz lief ihr nach.
Und dann begegnete er ihr einige Male am Tag im Stadtpark und auf dem Square. Sie ging allein spazieren, immer mit ein und demselben Barett, mit dem weißen Spitz: niemand wußte, wer sie sei; man nannte sie einfach: die Dame mit dem Hündchen.
»Wenn sie ohne ihren Mann und ohne Bekannte hier ist«, dachte Gurow bei sich, »so wäre es nicht überflüssig, ihre Bekanntschaft zu machen.«
Anton Tschechow, aus: »Die Dame mit dem Hündchen«
Ich kann es kaum fassen, wie es Tschechow in dieser Knappheit gelingt, nicht nur die Atmosphäre der russischen Sommerfrischeresidenz heraufzubeschwören, sondern auch noch beide Personen und das Thema einzuführen, mit dem sich die folgende Erzählung dann ganz folgerichtig befassen wird. Man könnte grün werden vor Neid. (Übrigens ist »Die Dame mit dem Hündchen« insgesamt eine der meisterhaftesten Erzählungen, die ich je gelesen habe. Es geht einfach Zauber von ihr aus.)
Noch ein Beispiel für einen genialen Auftakt gefällig?
Nach der Trauung gab es nicht einmal einen kleinen Imbiß; die Jungvermählten tranken ein Glas Wein, zogen sich um und fuhren zum Bahnhof. Statt eines fröhlichen Hochzeitsfestes und eines Abendessens, statt Musik und Tanz – eine Wallfahrt von zweihundert Werst. Viele billigten das und sagten, Modest Alexejitsch habe schon einen hohen Dienstrang und sei nicht mehr jung, eine lärmende Hochzeit könne da vielleicht als nicht besonders schicklich gelten; außerdem stimme die Musik wehmütig, wenn ein Beamter von zweiundfünfzig Jahren ein Mädchen heiratet, das gerade erst achtzehn geworden ist. Viele meinten auch, Modest Alexejitsch habe als ein Mensch mit Prinzipien diese Fahrt ins Kloster absichtlich unternommen, um seiner Frau begreiflich zu machen, daß er auch in der Ehe in erster Linie auf Religion und Sittlichkeit achten werde.
Anton Tschechow, aus: »Anna am Halse«
Auch hier sind nach gerade einmal einer halben Seite Personnage und Konflikt klar umrissen. Und dabei beschreibt oder erklärt Tschechow nicht, er erzählt, und zwar mit einer Geschwindigkeit und Präzision, die geradezu beängstigend sind.
Nur eine Seite weiter wird der zu erwartende Verlauf noch deutlicher, wieder über eine zweifache »erzählerische Indirektion« (kann man das so nennen?), nämlich über die Beschreibung der äußeren Erscheinung des Gatten, die seinen Charakter zu offenbaren scheint, und eine von ihm erzählte (!) Anekdote:
Die Jungvermählten waren allein. Modest Alexejitsch sah sich im Abteil um, verteilte die Sachen auf die Gepäcknetze und setzte sich lächelnd seiner Frau gegenüber. Er war Beamter, nicht sehr groß, recht füllig, rundlich und wohlgenährt, er hatte einen langen Backenbart, aber keinen Schnurrbart, und sein glattrasiertes, rundes, ausgeprägtes Kinn ähnelte einer Ferse. Das Charakteristischste an seinem Gesicht war der fehlende Schnurrbart, war diese frischrasierte kahle Stelle, die ganz allmählich in die feisten, wie Gelee zitternden Wangen überging. Er benahm sich würdevoll, seine Bewegungen waren gemessen und seine Manieren voller Sanftmut.
»Ich kann nicht umhin, an ein gewisses Vorkommnis zu denken«, sagte er lächelnd. »Als Kossorotow vor fünf Jahren den Orden der Heiligen Anna zweiter Klasse bekam und sich dafür bedankte, sagte Seine Erlaucht folgendes zu ihm: ‚Sie haben jetzt also drei Annen: Eine im Knopfloch und zwei am Halse.‘ Zu dieser Zeit war nämlich Kossorotows Frau, eine zänkische und leichtsinnige Person, die Anna hieß, wieder zu ihm zurückgekommen. Ich hoffe, Seine Erlaucht wird, wenn ich einmal den Annenorden zweiter Klasse bekomme, keinen Grund haben, mir gleiches zu sagen.«
Seine kleinen Äuglein lächelten. Und Anja lächelte ebenfalls, ganz außer sich bei dem Gedanken, dieser Mann könne sie jeden Augenblick mit seinen vollen feuchten Lippen küssen, und sie habe schon kein Recht mehr, ihm das zu verweigern. Die weichen Bewegungen seines rundlichen Körpers flößten ihr Furcht ein, sie fühlte sich angewidert. Er stand auf, nahm ohne Eile den Orden vom Hals, zog den Frack und die Weste aus und hüllte sich in seinen Schlafrock.
»Schön«, sagte er und setzte sich neben Anja.
Anton Tschechow, aus: »Anna am Halse«
O, mein Gott, denkt man unwillkürlich: Er wird sie doch jetzt wohl hoffentlich nicht auch noch berühren! (Stärker hätte ich noch gefunden, hätte Tschechow auf »sie fühlte sich angewidert« verzichtet, eine Erklärung, die er nicht im Geringsten nötig gehabt hätte; was es zu sagen gab, hat er gesagt.)
So etwas, glaube ich, fällt einem nicht zu. Das muss man üben. Talent allein erklärt so etwas nicht.
Nachzulesen sind beide Erzählungen übrigens im insel taschenbuch 3471, eben erschienen unter dem Titel »Anton Teschechow: Die schönsten Liebesgechichten«.
Am 26. Mai 2010 um 13:42 Uhr
Danke für diese Leselupe… :) Etüden geben in der Musik oft reizvollste Kleinwerke ab – ich freu mich auf Ihre Etüden (Plädoyer für Publikation – hier?)!
Am 26. Mai 2010 um 14:56 Uhr
Dem Dank schließe ich mich an. Lange nicht mehr Tschechow gelesen. Brillant!
Am 26. Mai 2010 um 20:27 Uhr
1) Haben Sie, Verehrtester, sich die Dame oder Tschechow vorgenommen? ;=)
2) das „sie fühlte sich angewidert“ ist vielleicht ein Übersetzungsproblem, wäre interessant wie es im Original lautet
Ich verehre Anton Pawlowitsch Tschechow sehr, freue mich, daß die deutsche Sprache die Sprache ist, die die vollständigsten Übersetzungen Tschechows besitzt (auch Peter Urban sei Dank dafür) und ich glaube, bis auf die Reise nach Kamtschatka habe ich alle verfügbaren Werke von ihm gelesen.
In meinem Lesebuch habe ich viele meiner Erfahrungen notiert dazu, und er bekommt auch jedes Jahr einen Blumenstrauß auf sein Grab, wenn ich in Moskau bin.
Schön, daß seine Werke gelesen werden.
Am 26. Mai 2010 um 21:34 Uhr
Der Tschechow Anton, an dem wirste nicht vorbeikommen. ;-) Und seine Theaterstücke erst…!
Den (und / oder Henrik Ibsen) würde ich mitnehmen auf eine einsame Insel (je nachdem, wieviele mitzunehmen, erlaubt sind).
Ein Fahrtwind, auch in den Stücken, ich sage Dir. Dabei kommen auch sie relativ unspektakulär daher. Zunächst…! – Und: sie sind genauso „ökonomisch“ und ungeschwätzig geschrieben.
Da haste recht, Talent reicht da nicht. Das bedarf dauernder Übung etc. Und einer genauen, guten und „empfangenden“ Beobachtungsgabe.
Insofern: Tschechow ist ein guter „Lehrer“, seine Bücher und Stücke. In jedem Falle. Sehe ich auch so.
Am 3. August 2010 um 21:25 Uhr
[…] so berauscht und demütig, dass ich es kaum beschreiben kann. Ich fühlte mich an meine Tschechow-Erfahrung erinnert, wenngleich Fühmann natürlich ganz andere Themen verhandelt und sprachlich wie […]