••• Im Winter 2006 hielt Wilhelm Genazino in Frankfurt fünf Poetikvorlesungen, die unter dem Titel »Die Belebung der toten Winkel« im Hanser Verlag erschienen sind.
In seiner dritten Vorlesung »Die Zeit und die Krümel« berichtet Genazino von einem unvergesslichen Augenblick des Kunstgenusses. Gemeinsam mit einer Freundin war eine von Genazinos Figuren beim nächtlichen Spazieren an einer Kohlenhandlung vorübergekommen. Das Geschäft hatte ein kleines Schaufenster, das spärlich beleuchtet war, so dass jedermann, der nachts an dem Laden vorüberging, sehen konnte, was hier angeboten wurde: Kohlen. In dem Schaufenster lagen lediglich einige Briketts, und der Anblick dieses Arrangements veranlasst die beiden Spaziergänger, eine Flasche Wein zu besorgen, zu dem Schaufenster zurückzukehren, die Briketts zu bestaunen und ausgiebig über die Frage zu diskutieren, ob es sich hierbei um ein Kunstwerk handele, ein beabsichtigtes oder unbeabsichtigtes, und wenn ja für wen dieses Kunstwerk wohl da sei.
»Für niemand«, sagt die Frau, »für dich und mich …« Und der Erzähler gesteht: »Jetzt hab‘ ich heute nacht doch noch etwas gesehen, womit ich nicht gerechnet hatte …«
Gestern las ich von einem Selbstexperiment eines Freundes. Er hatte eine von seinem Sohn glücklicherweise nicht mehr benötigte Restdosis »Ritalin« an sich erprobt und stellte am Abend fest, er sei über den ganzen Tag in der Lage gewesen, »mit voller Konzentration zu prokrastinieren«.
Von dem Lacher abgesehen, den sein Resümee bei mir und meiner Frau auslöste, waren wir doch etwas entsetzt über die Tatsache, dass er überhaupt auf die Idee gekommen war, »Ritalin« zu nehmen. Wir haben Gelegenheit, seinen Alltag ein wenig zu beobachten, und am ehesten, da waren wir uns einig, würde er es brauchen, mal auf die Bremse zu steigen und – statt zu »prokrastinieren« – mal richtig Urlaub zu machen. (Man kann natürlich damit warten, bis man vom Sitz klappt, bis sich der Urlaub zwangsverordnet. Ich darf so reden, ich weiß, wovon ich spreche…)
Als ich nun heute bei Genazino weiterlas, stieß ich auf eine Stelle, die sehr schön von unterschiedlichen Arten spricht, mit Zeit umzugehen.
Von einem wichtigen Element dieser Szene, vielleicht sogar von dem wichtigsten, war bisher kaum die Rede, und das ist die Zeit. Das Erlebnis (oder die Erfahrung) mit dem erleuchteten Kohlenkasten wäre nicht möglich ohne den Eintritt der Betrachter in eine als privat empfundene Zeitinsel. Der Philosoph Michael Theunissen hat das »ästhetische Anschauen« ein »Verweilen« genannt, das denjenigen möglich ist, die aus der linearen Zeitordnung wenigstens vorübergehend heraustreten können. Theunissen geht davon aus, daß wir in zwei verschiedenen Zeitverlaufsformen leben. Die erste und allgemeinere ist die lineare Zeitordnung, die unerbittliche Abfolge von Jetztpunkt und Jetztpunkt, das uhrenmäßige Absurren der sogenannten objektiven Zeit. »Umso tiefer«, so Theunissen, »ist in der menschlichen Natur die Sehnsucht nach Freiheit von der Zeit verwurzelt«.
Diesen Abstand sieht Theunissen gegeben in einem »Sich-Losreißen« von der objektiven Zeit, in einem Eintauchen in eine andere Zeit, die sich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auffächert und auf die Subjektivität desjenigen zurückwirkt, der Zeit verarbeitet. Damit dieses »Sich-Losreißen« von der objektiven Zeit gelingt, bedarf es eines zweiten Schritts, nämlich des »Aufgehens« in einer Sache oder einem Gegenstand, das meiner Entfernung von der objektiven Zeit erst den nötigen Rückhalt gibt. »Um ein gewöhnliches Ding anzuschauen«, schreibt Theunissen, »muß ich stehenbleiben, weil es selbst stillsteht.« Erst dann verwandelt sich die sinnliche Wahrnehmung in eine »ästhetische Anschauung, indem das Subjekt vermöge seines gewaltsamen Sich-Losreißens von der Zeit gewaltlos in den Gegenstand sich versenkt«.
Das »verweilende Aufgehen« in einer Sache oder einem Gegenstand ist deswegen so folgenreich, weil es Zufriedenheit hervorbringt. »… die Erfahrung, die wir machen«, so Theunissen, »wenn wir uns auf das je Gegenwärtige sammeln, ist wesentlich eine Glückserfahrung (…) Verweilen gewährt Glück, weil sein Gegenstand, herausgelöst aus meinem im Ausgriff auf Zukunft geleisteten Weltentwurf, plötzlich in einem neuen, ungewohnten Licht erscheint.« Dieses »neue, ungewohnte Licht« ist nichts anderes als das alte »Kunstschöne«, das »so schön gar nicht zu sein braucht«, um als Agent für die Freiheit von der Zeit wirken zu können. Die ästhetische Anschauung setzt früher ein als alle Kunstanschauung und ist deswegen in »das alltägliche Leben durchaus schon eingesprengt«. Die ästhetische Anschauung übersteigt das Alltagsleben in der Weise, daß es dieses verwandelt, und zwar durch Verrückung des bloß alltäglichen Wahrnehmens.
Das »Erlebnis des Augenblicks« ist, wie Aristoteles sagt, »abgesondert, weil der Augenblick selbst abgesondert ist«. Das Subjekt »sammelt sich«, fügt Theunissen hinzu, »indem es sich aus der Zerstreuung in die Länge der Zeit zurückholt und gesammelt dem Gegenwärtigen begegnet (…). In einer Sache aufgehen kann der und nur der, welcher sich um Zukünftiges nicht kümmert und auch seiner vergangenen Leiden nicht gedenkt.« Nur in dieser Sammlung auf das Gegenwärtige gewährt das Verweilen eine »bestimmte Art von Glück«.
Um welche Art von Glück handelt es sich dabei? Wie sollen wir diese Art von Glück bestimmen? Einige Abschnitte weiter stoßen wir bei Theunissen auf den Satz: »Glück tritt zum Verweilen nicht bloß akzidentiell hinzu, es wohnt ihm selbst inne.« Also: Das Glück hat seinen Sitz im Verweilen selbst; es kommt darauf an, welche Augenblicke wir auswählen, und was wir uns anschauen. […]
Mich erinnerten diese Passagen aus Genazinos Vorlesung an eine Anekdote, die ich, glaube ich zumindest, vor vielen Jahren in Abraham B. Yehoshuas Roman »Der Liebhaber« gelesen habe. Einer der Protagonisten des Romans führt in Israel eine Autowerkstatt. Bei ihm arbeitet ein Araber. Der jüdische Arbeitgeber ist mit der Arbeit seines Angestellten vollauf zufrieden. Nur eins wurmt ihn: Jeden Spätnachmittag um punkt 17:00 Uhr lässt der Mechaniker, was auch immer er gerade macht, alles stehen und liegen und geht heim. Befragt, warum er eine bestimmte Arbeit nicht beenden würde, statt am nächsten Tag erneut mit ihr beginnen zu müssen, antwortet der Angestellte: »Die Arbeit endet nie, mein Leben schon.«
Es könnte eine große und wunderbare Erfahrung sein, einmal einen Tag lang nichts »geschafft« zu haben als – und sei es nur für einen Moment – Glück empfunden zu haben durch »Verweilen im Gegenwärtigen«.
Am 24. Mai 2010 um 11:54 Uhr
Ich finde das immer so schwer nachzuvollziehen, dass Leute nicht so sind/sein können. Und nur weil man nichts „geschafft“ hat, hat man vermutlich viel getan/erlebt – ohne etwas zu tun. ;)
Und gerade Männer können das (glaube ich) nicht. Ich kenne nur 1,5 ;) Exemplare, die mal „stehen bleiben“ konnten und die Zeit geniessen.
Am 24. Mai 2010 um 12:06 Uhr
Als „Experimentator“ möchte ich mich auch noch zu Worte melden. Mir ging es bei diesem Selbstversuch darum zu sehen, ob mich auf nötige aber langweilige Arbeiten besser konzentrieren kann, ob ich schneller damit fertig werde. Klar nicht erreicht (vielleicht auch zu kleine Dosis genommen) Was ich aber gestern erreicht habe: Den halben Tag im Garten sitzen, ein Beet von Unkraut zu befreien, und die Sonne, das warme Wetter und den Geruch von frisch geschnittenem Gras zu geniessen (Das und eine Flasche Wein). Dazu lange Gespräche mit meiner Frau. Alles in allem ein nahezu perfekter Tag (und die nötige / langweilige Arbeit habe ich tatsächlich 5 vor 12 (also 5 Minuten vor Abgabetermin) fertiggestellt.
Ich habe durch die Einnahme von Ritalin tatsächlich eine Veränderung in meiner Wahrnehmung festgestellt, allerdings konnte ich die von vielen beschriebene „Zombie-Roboter-Arbeitswut“ (die ja das Ziel gewesen wären) nicht feststellen. Dafür fühlte ich mich körperlich unwohl (schwammiges Gefühl in den Beinen, Kontrollverlust).
Ein Ritalin Kenner empfahl mir auf Twitter, alle Ablenkungen abzuschalten, Ziele zu definieren, mit auf die gewünschte Sache zu konzentrieren – damit funktioniere es bei ihm wunderbar mit dem Ritalin und der Konzentration. Das tut es bei mir auch – und das schaffe ich auch ohne Psychoaktive Medikamente.
Der Versuch war insofern für mich wertvoll, weil ich etwas über mich, mein Gehirn und meine Art zu arbeiten gelernt habe. Und auch, dass es auch ohne geht.
In diesem Sinne, werde ich jetzt noch mals 25 Minuten konzentriert arbeiten (siehe »» hier) und mich dann um den Grill kümmern :)
Am 24. Mai 2010 um 12:19 Uhr
Was hast Du denn über Dich, Dein Gehirn und Deine Art zu arbeiten neues gelernt?
Und was wäre gewesen, wenn Du das Gefühl gehabt hättest, es würde nicht ohne gehen und dass Du mit Ritalin viel effektiver arbeiten würdest?
Ich persönlich, halte das für gefährlich. Ich experimentiere sehr gern. ABER: Ich lass die Finger von den meisten Dingen, weil ich eben nicht in die Situation kommen möchte, das Gefühl zu haben, es würde nicht ohne eine bestimmte Sache gehen.
Am 28. Mai 2010 um 12:07 Uhr
Auweia, Ihr macht ja Sachen bzw. Herr Fischer…!
Ich gebe Kerstin unbedingt recht. Sowas würde ich auch nicht ausprobieren, niemals. Ist auch nicht nötig. – Nicht „immer“ die Lösung im sog. Außen nur suchen, Männer… ;-)
Kontemplation, heißt das Zauberwort bzw. der Gegenvorschlag. Alte philosophische Tugend und Technik. Und das schöne: ohne jegliche gesundheitsschädigende Folgen…!
Ich gebe zu, einfach ist es nicht, aber lernbar. Denkt an Kekulé und seinen Benzolring…! Der „erschien“ ihm nicht mit-, sondern (wenn überhaupt) trotz Drogen. Wahrscheinlich sogar komplett ohne.