Vom verlorenen Akkusativ

27. April 2010

Swetlana Geier - Foto: © Nikolaus Stauss
Swetlana Geier • Foto: © Nikolaus Stauss

••• Vor vielen Jahren hat mir mein damaliger Verleger Egon Ammann einen sehr zu recht in Leder gebundenen Wälzer geschenkt: »Verbrechen und Strafe« von Dostojewski in der – wie man unschwer schon am Titel erkennen kann – vielgerühmten Übertragung von Swetlana Geier.

Leider habe ich die Grande Dame der russisch-deutschen Literaturübersetzung nie persönlich kennenlernen dürfen. Aber seit dieser ersten Lektüre habe ich sie verehrt. Dafür gibt es viele Gründe, nicht nur ihr ungeheures Können als Übersetzerin. Wer den aktuellen »Spiegel« 17/2010 zur Hand nimmt, wird das vermutlich unschwer nachfühlen können. Die inzwischen 87 Jahre junge Dame hat dem »Spiegel« ein Interview gegeben.

Spiegel:
Was meinen Sie, wenn Sie sagen: Wo ich bin, ist Russland?

Geier:
Ich denke, es steht in den Sternen geschrieben, dass der Russe und der Deutsche sich aneinander am fruchtbarsten reiben können. Keine Nation ist mit einer anderen dermaßen beschäftigt wie die Russen mit den Deutschen und die Deutschen mit den Russen. Und natürlich sind die Russen, weil sie materiell ärmer sind, unabhängiger als die Deutschen. Für die Deutschen ist ein Eigenheim ein Wert, sogar für die jüngere Generation. Und die Sprache kommt dem zu Hilfe. Der Deutsche lebt dank seiner Hilfsverben. Sein und haben. Ich habe. Und wenn ich nicht habe, dann ist es nicht gut.

Spiegel:
Und in Russland?

Geier:
Auf Russisch kann ich das gar nicht sagen. Der Deutsche sagt: Ich habe ein Haus. Subjekt, Prädikat, Akkusativobjekt. Im Russischen verliert man seinen Akku sativ, man ist dann nicht mehr Subjekt. Es heißt: Das Haus ist bei mir. Wenn ich keine Russin wäre, würde ich deshalb eine Russin werden wollen. Die Dinge halten sich bei mir nur eine begrenzte Zeit auf. Ist das nicht phantastisch! Wenn die Deut schen das nur begreifen würden. Man ist freier. Und die ganzen armen Russen, die nichts haben, ich möchte da nicht leben mit einer Familie, weil es viel zu mühselig ist, aber die Russen sind freier.

Spiegel:
Und das hat seine Wurzeln in der Sprache?

Geier:
Sprache ist Mensch. Sie drückt nicht etwas aus, sie ist Mensch. Sie formt das Denken.

Spiegel:
Sind Sie auch nach fast 70 Jahren in Deutschland deshalb immer Russin geblieben, weil Sie durch diese Sprache geformt sind?

Geier:
Ich bin viel zu glücklich, um zu wis sen, wie ich geformt bin. Und ich habe viel zu viel zu tun.

Das Interview muss man gelesen haben, wenn man irgendetwas mit Sprache zu tun hat. Ein vorwitziger Blogger hat sich erlaubt SpON zuvorzukommen und hat das gesamte Interview online gestellt. Das soll natürlich nicht heißen, dass man den »Spiegel« nun nicht mehr kaufen müsste! (Es gibt auch noch andere sehr interessante Beiträge darin, unter anderem über einen russischen Agenten, das nur notabene.)

Der WDR übrigens hat letztes Jahr ein kurzes Porträt über Swetlana Geiers gedreht (»Man übersetzt das nicht ungestraft«), das ebenfalls online anzuschauen ist. In diesem Porträt spricht Frau Geier wie auch dem »Spiegel« gegenüber vom Problem der deutschen Hilfsverben. Und sie spricht auch in eindringlichen Worten über ein Ereignis in ihrer Kindheit, einen Wendepunkt in ihrer Biographie: Ihr Vater war im Zuge der stalinistischen »Säuberungen« verhaftet und gefoltert worden. Er kam – anders als die meisten, die erschossen wurden oder in Arbeitslagern krepierten – nach einiger Zeit frei, schwer krank und für immer gezeichnet. Swetlana Geier berichtet:

Und da hat mein Vater gesagt: »Ich werde euch alles erzählen, aber ihr dürft mich nie etwas fragen.« Und das ist etwas sehr Schreckliches in meinem Schicksal. Ich sehe das Zimmer, ich sehe mich, ich sehe meinen Vater, immer am Sprechen. Und ich habe nichts behalten. Ich weiß nichts.

Swetlana Geiers Alter zu erreichen, mit ihren Verdiensten und mit dem Lebensgefühl, das aus diesem »Spiegel«-Interview spricht – das wäre schon mal ein Ziel.

18 Reaktionen zu “Vom verlorenen Akkusativ”

  1. Dorit

    Gar nicht wahr, das mit dem Dostojewski…! Aber „Schwamm drüber“…! :-)

  2. Benjamin Stein

    Was sind denn das bitte für Kommentare aus den hinteren Reihen?! Du willst doch wohl nicht etwa behaupten, ich würde mich da »verschwommen« oder gar falsch erinnern!

  3. Dorit

    YES…! Aber „dafür“ habe ich Gershom Sholem (Einführung in die jüdische Mystik) und noch den Schäfer „kassiert“. – Nee, weißte ja. Wollteste ja nicht wiederhaben…, oder jetze doch…?

    Na, die Russen wissen eben Bescheid mit dem Haben-Wollen und dem So- und Da-Sein und sonstigen Seinsformen (s. Interview Swetlana Geier).

    Insofern: alles gut, und…: Ruhig, Brauner… :-)
    – Dostojekwsi hat Dich eben gefunden. Und der Sholem eben mich. Nu haste den Salat.

    Apropos: der Sholem war mir sehr hilfreich (+Haucke natürlich) meine never ending Hausarbeits-Story zu Alexander Blok, Andrej Bely und den russischen Symbolisten zu beenden (er wird sogar zitiert, jawoll).

    Da siehste mal, wie weit man mit Mystik als Heidenkind kommen kann, sogar bei den sog. objektiven Wissenschaften. Die sind nämlich gar nicht so.

    Insofern: behalte Du mal Deinen Dostojewski und Deine Erinnerung. Ich meine. Im Zweifelsfalle Egeon Amman fragen. Der hat dann die dritte „Wahrheit“ parat. Ich wette.

    Also: Heimat ist da, wo Erinnerung sich auskennt. (Das ist nicht von mir, sondern von „meinem“ Andreas [Dresen].

    So, nu weißte „alles“…! :-) Und das nun aus der ERSTEN Reihe… :-)

  4. Benjamin Stein

    Ich fasse mal zusammen: Der ledergebunde Dostojewski hat Dir gehört? Und der Scholem, den ich ewig gesucht habe, steht bei Dir? Also: Ammann hat Dir den Distojewski geschenkt und nicht mir?

    Soviel zum Autobiographischen in der „Leinwand“. Ich muss vielleicht erklären, dass ich mit der Kommentierenden einst verlobt war. Wir hatten ein riesiges Bücherregal, in dem standen unser beider Bücher, was kein Problem gewesen wäre, hätten wir nicht irgendwann die Verlobung gelöst. Bei der Büchertrennung ist also auch einiges nicht so gelaufen, wie es sollte …

    Ich habe den Scholem inzwischen neu (Major Trends in Jewish Mysticism). Ich geb Dit den geklauten Distojewski auch zurück. (Himmel, am Ende steht da noch ein Gruß von Egon an DICH drin…)

    Lauter Peinlichkeiten!

  5. Benjamin Stein

    Du hast den Schäfer?! Du hast den? Weißt Du, wie lange ich den gesucht habe…

  6. Dorit

    Tja, mein Lieber… bzw. gut, daß wir drüber gesprochen haben, wa…?

    Nein, jetzt mal ohne Flax und Krümel. Den Sholem, und auch den Schäfer, das habe ich Dir mal „gebeichtet“ (gemailt). Und habe Dich sogar „faierweise“ gefragt, ob Du den wiederhaben willst noch…! Wirklich. Du hörst eben NIE zu… :-)

    Willste „Beweise“…? Die Mail habe ich nämlich noch (stammt noch aus meinen „Bewahrerzeiten“).

    Und der Dostojewski, der ist einfach in München geblieben. Ist doch nicht schlimm. Ich habe ihn nicht gebraucht. Und Punkt. Oder…?

    Aber ist doch „schietegal“, um mal meinen Großvater zu zitieren (als Deine frühere Verlobte bin ich ja nun eh schon „geoutet“ hier in „alle Öffentlichkeit“…). :-)

    Also, behalte ihn mal schön, den Fjodor (Wsjewo Choroschewo…!).

    Aber den Schäfer, den kriegste zurück. Mit dem habe ich mich eh nicht „verbunden“ irgendwie. Mit Herrn Scholem schon eher (na, den haste ja auch „nachbesorgt“ inzwischen).

    Insofern: hat sich doch alles zusammengefügt, oder…? Oder nicht?

    „Wer sein Leben behalten will, der wird es verlieren. Wer aber sein Leben verliert, der wird es behalten“, oder so ähnlich („Leben“ kannste getrost durch „Bücher“ ersetzen).

    Insofern II: Ob Lenin deshalb auch so gut „vorankam“ mit der Abschaffung von Privateigentum…? – Okay. Das ziehe ich zurück. Das ist eine unzulässige und somit unzuverlässige Verkürzung. Sprache bzw. verlorener Akkusativ nun hin oder her.

  7. ksklein

    Den Film “Die Frau mit den fünf Elefanten” über ihr Leben und ihre Arbeit haben wir übrigens zu Hause.

  8. Yves

    @ksklein: Den wollte ich mir gerade ganz erfreut bestellen … Woher stammt denn der? Ich warte schon ganz ungeduldig auf die DVD, musste aber gerade feststellen, dass die noch gar nicht erhältlich ist …

    Leider sind auch nicht mehr alle „Elefanten“ in gebundener Ausgabe erhältlich …

  9. ksklein

    @Yves: Bin mir nicht sicher, ob ich das verraten kann, woher ich die habe. Deshalb behalte ich das lieber für mich.
    Aber der läuft glaube ich noch in ein paar Kinos. Vielleicht hast Du da Glück.

  10. Yves

    @ksklein Leider läuft der bei uns schon nicht mehr (zumindest in der Stadt in der ich wohne). Ich werde mich wohl noch gedulden müssen.

    Meine Frage entspricht leider – rückblickend – meinem Schlafmangel. Sorry.

    Damit diese unglaublich intelligente und mit all ihren Implikationen durchdachte Frage nicht vollständig sinnlos gewesen ist: Man kann auf der Film-Homepage die DVD, die im Herbst herauskommen wird, vorbestellen.

    Jetzt gehe ich eine Runde schlafen …

  11. ksklein

    Siehste, so weit bin ich nicht gekommen. Ich hatte auch nach der DVD gesucht und sie online nicht gefunden. Dann kann ich mich also für den Tipp bedanken. :)

  12. Valerij Tomarenko

    An alle Interessierte:

    Am 07.06.2010 soll eine Lesung in Hamburg stattfinden: Swetlana Geier liest aus Dostojewskijs „Der Idiot“ (Warburg-Haus, Heilwigstraße 116, 20249 Hamburg).

  13. Dorit

    Danke für den Tip! Kenne jemanden in HH, den das sehr interessieren könnte…! Und wie sähe es mit Berlin aus…?

  14. Valerij Tomarenko

    Update zum Thema Swetlana Geier in Hamburg: Am Sonntag, dem 6. Juni um 17 Uhr wird Swetlana Geier zu Gast bei der Vorstellung von „5 Elefanten“ in Abaton zu Gast sein.

    Wie es mit Berlin aussieht, weiss ich leider nicht. Vielleicht kann die Deutsche Dostoewskij-Gesellschaft mit näheren Informationen helfen…

  15. Dorit

    Danke für die Präzisierung etc.!

    Mit Berlin sieht’s wohl schlecht aus. Zumal sie schonmal in Berlin war. Ist zwar schon eine Weile her (2006, Literarisches Colloquium am Wannsee, im September), aber sie tourt ja nicht durch die Lande wie eine Rockband, nehme ich mal an, oder…? :-)

  16. Dorit

    Am 21.06., 20:00 Uhr im Lit. Colloquium Berlin: Grenzgänger. Auf Reisen in Mittel- und Osteuropa.

    „Die Frau mit den 5 Elefanten“. Dokumentarfilm. Filmvorführung und Gespräch mit dem Regisseur Vadim Jendreyko. Moderation: Thomas Salb

    http://www.lcb.de/home/

  17. Valerij Tomarenko

    danke für das update!

  18. Dorit

    Info der Dostojewski-Gesellschaft: Veranstaltung mit Swetlana Geier in HH (Warburghaus) muß leider ausfallen am 07. (!) Juni (gesundheitliche Gründe).

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