••• Anfang Februar habe ich mich in München mit Ijoma Mangold getroffen. An zwei Tagen haben wir mehrere Stunden miteinander gesprochen – für ein Porträt, das in der Wochenzeitung »DIE ZEIT« erscheinen sollte. Das waren spannende Stunden. Kaum ein Thema wurde ausgespart, und wir trieben selbst die theologische Debatte in die Grenzregionen des Zitierfähigen.
Auf so ein offenes Gespräch folgt dann eine Zitterpartie: Was macht ein Journalist aus einer solchen ersten Begegnung?
Dass ich mich nicht gern fotografieren lasse, habe ich hier schon ge- und beschrieben. Auch solche Porträts sind mir ein Graus. Ijoma Mangolds Artikel, in der heutigen »ZEIT« erschienen, ist – Aufatmen – sehr tiefsinnig geworden. Dennoch gruselt es mich angesichts dieses Ausmaßes an Biographischem im öffentlichen Raum. Gut, dass es nun dieses Porträt gibt, in dem Mangold meine »Grenzgängerei« zeigt und reflektiert. Das heißt, ich muss solche Porträt-Interviews nie wieder geben… Das ist sehr beruhigend. Man kann also künftig, wenn es interessiert, über die »Sache« reden, und die ist nun mal die Literatur und nicht der Autor.
Außerordentlich gern habe ich gelesen, was Ijoma Mangold über »Die Leinwand« schreibt:
Die Leinwand […] erzählt auch davon, wie sich Wissen und Glauben, Moderne und Ritus, Wissenschaft und Religion aneinander reiben. Und wer nun glaubt, dass ein orthodoxer Jude naheliegenderweise einer konservativen Ästhetik folgt, muss umdenken: Die Leinwand ist ein formal höchst avancierter Roman. Als Schriftsteller ist Stein eher orthodoxer Avantgardist. […] Benjamin Steins Roman Die Leinwand ist auch deshalb eine solche Sensation, weil er mit wunderbarer Frische ein Genre revitalisiert, das es in der deutschen Literatur der vergangenen 60 Jahre aus naheliegenden Gründen kaum gegeben hat: eine jüdische Diaspora-Literatur, die ihren Witz aus den Neurosen schlägt, die jüdische Identität in einer nichtjüdischen Umwelt hervorbringt. Man kennt dieses Genre vor allem aus der amerikanischen Literatur (Philip Roth ist nur das berühmteste Beispiel). Es ist kosmopolitisch, es lebt von Witz und Intelligenz, es reflektiert das Nichtselbstverständliche der eigenen Identität, es erlaubt sich gerne auch eingängige Einsprengsel religionskultureller Folklore, und die Rolle des Psychoanalytikers bleibt nur selten unbesetzt. Benjamin Stein bedient sich der Möglichkeiten dieses Genres beherzt, er hat es aber zugleich radikalisiert, indem er nicht mehr von einer assimilierten jüdischen Lebensform ausgeht, sondern von einer orthodox-gläubigen. Das ist eine entscheidende Gewichtsverschiebung, die dem Buch einen ganz anderen Grad an Gegenwärtigkeit gibt.
Ijoma Mangold in: »DIE ZEIT« v. 8. 4. 2010
Am 8. April 2010 um 10:51 Uhr
Ausserordentlich gern habe ich über deine Biografie gelesen. Wunderbar, dass ein religiöser Mensch in einer „gesunden“ und anregenden, und nicht in einer zerstörerischen und zerstörenden Radikalität gezeigt wird.
Am 8. April 2010 um 17:33 Uhr
Die Besprechung in der Zeit ist ausgezeichnet. Die Leinwand hatte ich aber schon vorher gelesen und bin begeistert von Deinem Opus.
Am 8. April 2010 um 20:38 Uhr
Ja, so ein Gespräch ist möglicherweise riskant. Aber Sie habens gewuppt. Auch wenn der Redakteur sicher guten Willens war: Sie müssen Ihre Ansicht schon gut erläutert haben, sonst wäre das Resultat nicht so hervorragend!
Herzlichen Glückwunsch und tiefen Respekt!
Am 9. April 2010 um 10:32 Uhr
[…] Lesenswert sein Porträt in der aktuellen Printausgabe der ZEIT. Erfreulicherweise hat Stein bereits ein paar Zeilen aus dem Artikel wiedergegeben (hier eine pdf). Die Leinwand […] erzählt auch davon, wie sich Wissen und Glauben, Moderne und Ritus, Wissenschaft und Religion aneinander reiben. Und wer nun glaubt, dass ein orthodoxer Jude naheliegenderweise einer konservativen Ästhetik folgt, muss umdenken: Die Leinwand ist ein formal höchst avancierter Roman. Als Schriftsteller ist Stein eher orthodoxer Avantgardist. von hier […]
Am 12. April 2010 um 11:53 Uhr
…Dass aus Biographischem derzeit erster und nahezu einzigster Zugangsmodus für die Rezeption & Vermittlung von künstlerischen Werken fast jeder Disziplin geworden ist, ist dann am betrüblichsten, wenn die kostbaren Druckseiten (und Lesezeiten) hergegeben werden müssen für die Vita/Anschaulichkeit etc. – wo es doch stattdessen um Werk-Nach-Denken gehen könnte…
Aber vermutlich ist das hier wegen Berufswechsel und Religionspraxis etc. noch gerade so zu motivieren.
(Denkverarmung oder -Scheu des Feuilletons bleibt es trotzdem; wenn man über die Arbeit sprechen will, statt über die Person, dann erschrecken sich Journalisten mittlerweile geradezu… Ich plädiere hier altmodisch für die Freiwillige Selbstüberforderung! ;- )
P.S. Mich hat die literarische Vorgehensweise sehr interessiert + drum bin ich hier gelandet… :- )