Herr Grau muss sich bedanken

29. März 2010

»Graupausen« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger

… translation always involves painstaking negotiation…
Yifeng Sun
in: »Re-creating literary texts through cross-cultural translation«

1
Aus seiner Schulzeit weiß Herr Grau noch, dass es Kulturen gibt, in denen die Art und Weise, wie ein Geschenk verpackt und überreicht wird, mehr über die Beziehung zwischen Schenkendem und Beschenktem verrät als das Geschenk an sich: erst durch die zeremonielle Aufbereitung des Geschenks erhält dieses seine Bedeutung. In anderen Kulturen wiederum ist das Entfernen des Preisschilds von eminenter Wichtigkeit, obwohl es gerade die Höhe des Kaufpreises ist, die den symbolischen Wert des Preisgegebenen bestimmt.

2
Auch die Bruanier beschenken sich gern, unterscheiden dabei aber grundsätzlich zwischen Anstands- oder Gefälligkeits- und Herzensgeschenken. Erstere haben nutzlos und lediglich hübsch zu sein. Dem Auge Angenehmes zu bieten, wird als Zeichen von Respekt verstanden. Herr Grau kann dies nachvollziehen, er hat kulturellen Eigenheiten schon immer großes Verständnis entgegengebracht. Schon als Kind liebte er Bücher, die von fernen Ländern und den ausgefallenen Gepflogenheiten ihrer Völker erzählten. Doch dem, womit er sich jetzt konfrontiert sieht, ist mit Verständnis allein nicht beizukommen. Er muss etwas unternehmen, die Situation einfach auszusitzen, kann er sich nicht erlauben. Aber was tun? Er steht, in der einen Hand noch das Geschenkpapier und unfähig, sich von der Stelle zu rühren, in der Mitte seines Wohnzimmers. In der anderen Hand hält er einen Aschenbecher.

3
Der Aschenbecher ist nichts fürs Auge. Man kann ihn drehen und wenden wie man will, schön ist er nicht. Dies ist kein Anstandsgeschenk, geht es Herrn Grau wieder und wieder durch den Kopf. Und es gefällt ihm nicht.

4
Undenkbar, dass ihm jemand absichtlich etwas Hässliches schenkte. Unvorstellbar, welch ein Affront das wäre. Herr Grau kann sich nicht ausmalen, womit jemand sich eine solche Respektlosigkeit verdienen könnte. Die Bruanier sind ein höfliches Volk, für Animositäten haben sie subtilere Ausdrucksformen entwickelt. Völlig ausgeschlossen also. Folglich bleibt ihm nur ein Weg, eine Erklärung zu finden: nicht in ästhetischen Kategorien zu denken.

5
Kaum eine Stunde ist es her, dass die Assistentin seines Arztes ihm das kleine Paket überreicht hat. Gerade war er wieder zu Atem gekommen und hatte das Behandlungszimmer verlassen, als die Assistentin ihn auch schon zu sich rief. Er wollte das Geschenk sofort öffnen, doch sie hielt ihn freundlich aber bestimmt. Öffne es zu Hause, sagte sie. In Bruanien nehmen wir uns für Geschenke Zeit.

6
Aschenbecher schenkt man in Bruanien nur Menschen, die einem am Herzen liegen. Nur Menschen, die einem wirklich etwas bedeuten, erhalten Geschenke, die man auch tatsächlich benutzen kann. Dieser Aschenbecher, so lautet die Botschaft, soll dir zu Diensten sein und dir das Leben einfacher machen. Herr Grau versteht das. Er versteht, dass er der Assistentin etwas bedeutet, und wie oft hat er selbst davon geträumt, an ihrem Herzen zu liegen! Aber ein Aschenbecher? Wie, um alles in der Welt, soll er sich je dafür bedanken?

7
Es ist Herrn Graus Hang zur Ehrlichkeit, der ihn so vollkommen hilflos macht. Natürlich freut er sich über die Geste, und noch mehr darüber, was die Assistentin ihm dadurch zu verstehen gibt, aber der Aschenbecher gefällt ihm nicht. Herr Grau ist Nichtraucher.

8
Das nutzlose Ding wiegt schwer in seiner Hand und er weiß nicht, wohin damit.

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