»Graupausen« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger
… translation always involves a whole series of transformations that reach well beyond the purely linguistic dimension to reflect a different view of the world. …
Joanna Nowicki, Michaël Oustinoff
in: »Translation and Globalisation«
1
Bis tief in jede Nacht hinein ziehen Bruanier schwatzend, lachend, manchmal singend unter Herrn Graus Schlafzimmerfenster vorbei. Abend für Abend liegt er in seinem Bett und versucht, einen sauberen, klaren Gedanken zu fassen. Nichts ruft den Schlaf schneller herbei als ein aufgeräumter Geist und eine Seele, die mit sich im Reinen ist. Der Lärm aber, der von der Straße durch die geschlossenen Fenster in sein Zimmer dringt, lenkt ihn ab, bringt ihn auf andere Gedanken, andauernd. In seinem Kopf sieht’s aus, als habe da einer als Kind nie gelernt, sein Zimmer aufzuräumen.
2
Nach einer unruhigen, von unordentlichen Träumen durchrüttelten Nacht sind es in den frühen Morgenstunden dann Hupen und Sirenen, die ihn aus dem Schlaf reißen, heulende Vorboten eines Lärms, der ihn den ganzen Tag hindurch begleiten wird. Müde richtet Herr Grau sich auf. Auf der Bettkante kauernd, versucht er sich zu erinnern, wie er trotz allem in den Schlaf hat finden können, doch da fällt sein Blick auf die achtlos über eine Stuhllehne geworfene Kleidung des Vortags, dann auf die Kommode, auf der sich Zettel, Münzen, Bücher, eine Zahnbürste und eine leere Kekspackung den Platz streitig machen.
3
Herr Grau kennt sich als ordnungsliebenden Menschen. Das Durcheinander in seinem eigenen Zimmer befremdet selbst ihn und bringt ihn ins Grübeln. Es ist, als läge der Lärm nicht nur in der Luft.
4
Er ist es, der die Menschen antreibt, sie auf den Bürgersteigen vor sich hertreibt und über die Strassen wirbelt, immer hart aneinander vorbei, manchmal auch zueinander, einander in die Fäuste, einander in die Arme. Und diese Bewegung, die er bewirkt, erzeugt wiederum ihren eigenen Lärm, als müssten die rastlosen Körper sich Luft verschaffen, Rufe hier, ein Lachen da, dort eine Schimpftirade und in unmittelbarer Nähe jemand, der das nicht auf sich sitzen lassen mag.
5
Herr Grau wird von einem Mann in dunklem Anzug durch eine Glastür hindurch kurz gemustert, dann gleitet die Tür auf und hinter Herrn Grau lautlos wieder zu. Dann öffnet sich eine zweite Tür, und Herr Grau ist daheim.
6
Das Institut für Kulturvermittlung und –förderung seines Heimatlandes in Bruanien – es verkörpert alles, was Herr Grau an sich selbst so schätzt: ruhig ist es hier, so still, dass nichts sich bewegen muss. Herr Grau selbst setzt nur vorsichtig einen Fuß vor den anderen, zögernd und widerwillig beinah, aus Angst, seine Bewegung könnte einem Geräusch Anlass geben, sich aus der Stille zu lösen. Ängstlich behält er die Büchergestelle im Auge, die an den Wänden stehen. Bei jedem noch so leisen Quietschen seiner Schuhsolen auf dem blitzblanken Laminatboden zuckt er zusammen, als fürchtete er, damit die wohltuende Ordnung aus ihrem Schlaf zu schrecken. Doch keines der Bücher rührt sich von seinem Platz.
7
Dann entdeckt Herr Grau andere Gestalten, die lautlos herumstehen, junge Menschen meist, die hier ihren kulturellen Hunger stillen. Herr Grau ist angenehm überrascht: es sind Bruanier, die sich aufführen wie seine Landsleute. Er lächelt und nickt zum Gruß, da wirft ihm eine junge Frau einen vernichtenden Blick zu: Sei still! bedeutet sie ihm.
8
Herr Grau hält den Atem an, verlässt fluchtartig seine Heimat und atmet befreit auf, als er wieder auf der Straße steht.
Am 26. Februar 2010 um 12:00 Uhr
Herr Grau wächst mir mehr und mehr ans Herz. Die Entscheidung, die (fiktive, sic!) Figur auch in ein fiktives Land und dessen Kultur zu versetzen, war großartig. Dieses Setting eröffnet noch mehr Möglichkeiten als die ursprüngliche Idee.
Das ist ein Wahnsinnssatz! Die Bibliothek als »virtuelle Heimat«. Die von den Bruaniern nachgestellte Atmosphäre einer Heimaterinnerung. Und Herr Grau atmet auf, als er sich im »Exil« wiederfinden darf. In diesem Satz schwingt irgendwie mit: Heimat wie Familie kann man sich nicht aussuchen. Und es gibt Heimweh, obgleich es sich so verhalten mag, dass erst die Flucht einen aufatmen lässt.
Lass uns ja nicht hängen, Markus, und mach weiter mit diesem grauen Herrn!
Am 26. Februar 2010 um 12:38 Uhr
Man könnte es auch so ausdrücken: Je weiter die Übersetzung Herrn Graus fortschreitet, desto weiter entfernt er sich auch vom Original :-)
Oder, frei nach Goethe:
Ich merke das auch bei meinen Schülern: Selbst wenn man nicht sich selbst, sondern „nur“ einen Text aus einer fremden Sprache in die eigene übersetzt – die Arbeit an und mit den verschiedenen Sprachen hat Auswirkungen auf den, der mit den Sprachen hantiert.
Am 5. März 2010 um 08:59 Uhr
[…] Rainer Kohlmayer in: Der Literaturübersetzer zwischen Original und Markt1 Herr Grau hat der befremdlichen Begegnung mit seiner Heimat im Institut für Kulturvermittlung und –förderung nach einigem Ringen […]