Italo Calvino (1923-1985)
••• Über einen Wikipedia-Artikel bin ich auf ein Juwel gestoßen. Seit gestern lese ich in Calvinos »Die unsichtbaren Städte«, und zwar in der Hanser-Neuübersetzung von Burkhart Kroeber (die Übersetzerangabe bei amazon ist falsch).
Das Buch besteht aus fiktiven Städteporträts in Form von Prosagedichten. »Marco Polo, der große venezianische Asien-Reisende im späten 13. Jahrhundert, berichtet dem alternden Mongolenherrscher Kublai Khan, Begründer der Yuan-Dynastie und somit Kaiser von China, an lauschigen Abenden in dessen Palast zu Kambaluk (= Peking), in welche Städte er auf seinen Inspektionsreisen durch das weitläufige Reich gekommen ist.«
Wenn Calvino hier Marco Polo als Erzähler bemüht, bedeutet dies jedoch nicht, dass wir uns, diese unsichtbaren Städte entdeckend, wirklich im 13. Jahrhundert befänden. Mädchen, die Pumas an der Leine spazierenführen, kommen ebenso vor wie Segelschiffe, orientalische Basare, aber eben auch Wolkenkratzer, auf deren Dächern Lebensmüde sich zum Sprung vorbereiten.
Viele der 55 Städteporträts tragen gleiche Titel, etwa »Die Stadt und die Zeichen« oder »Die Stadt und die Erinnerung«. Es sind poetische Etüden, Variationen über oft gleiche Themen wie eben Erinnerung, Wünsche oder Zeichen – Verkehrsschilder und andere Dinge, die selbst etwas sind und doch auf etwas anderes weisen. Ein Perlenbuch, das man auf irgendeiner Seite aufschlagen und loslesen kann. Man findet überall etwas, woran Imagination und Assoziationslust hängenbleiben.
Da heißt es etwa über Wünsche im Porträt der Stadt Anastasia:
Wenn du acht Stunden am Tag als Achat-, Onyx- oder Chrysoprasschneider arbeitest, nimmt deine Mühe, die dem Wunsch Form gibt, selber die Form des Wunsches an, und du glaubst, über ganz Anastasia zu verfügen, während du nichts anderes bist als ihr Sklave.
Bei solchen poetischen Werken ohne eigentliche Handlung darf man ja straflos – was ich zu gern mache – die letzten Zeilen zuerst lesen. Sie haben es in sich:
Er [Kublai] sagt: »Es ist alles vergebens, wenn der letzte Anlegeplatz nur die Höllenstadt sein kann und die Strömung uns in einer immer engeren Spirale dort hinunterzieht.«
Darauf Polo: »Die Hölle der Lebenden ist nicht etwas, das erst noch kommen wird. Wenn es eine gibt, ist es die, die schon da ist, die Hölle, in der wir jeden Tag leben, die wir durch unser Zusammensein bilden. Es gibt zwei Arten, nicht unter ihr zu leiden. Die erste fällt vielen leicht: die Hölle zu akzeptieren und so sehr Teil von ihr zu werden, daß man sie nicht mehr sieht. Die zweite ist riskant und verlangt ständige Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft: zu suchen und erkennen zu lernen, wer und was inmitten der Hölle nicht Hölle ist, und ihm Dauer und Raum zu geben.«
In diesem Buch werde ich wohl – mit Unterbrechungen – lange lesen.
Am 18. Februar 2010 um 21:27 Uhr
Calvino hat mich mehr geprägt als Cortázar oder Borges. Die Türen, die Eco mir in der Geisteswissenschaft aufgestossen hat, hat Calvino mir in der Literatur geöffnet (und hinter mir wieder geschlossen: Egal ob ich „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ oder den „Baron auf den Bäumen“ las, ich fühlte mich während der Lektüre immer wunderbar allein, wie damals, als Kind, wenn ich nachts unter der Decke mit einer Taschenlampe ganze Nächte hindurchlas.)
Am 19. Februar 2010 um 00:34 Uhr
Nachts unter der Decke mit der Taschenlampe lesen kommt mir bekannt vor. Vor allem nachdem ich nicht mehr schlafen konnte, weil ich mir heimlich mit einem Maharajasohn Horrorfilme angeschaut habe und ein halbes Jahr nicht mehr schlafen konnte. :)
Viele tolle Schriftsteller habe ich über andere Schriftsteller entdeckt. Z. B. hat mich Franz Dobler zu Charles Bukowski und Truman Capote geführt, Markus Hediger zu Italo Calvino, etc…
Am 19. Februar 2010 um 00:44 Uhr
Dobler steht auf den Schultern seiner Riesen, ich begnüge mich damit, mich in den Schatten der meinen zu legen.
Aber du verstehst ganz offensichtlich, mir das Herz aufgehen zu lassen :-)
Am 19. Februar 2010 um 01:00 Uhr
Was meinst Du genau mit „Dobler steht auf den Schultern seiner Riesen“?
„Aber du verstehst ganz offensichtlich, mir das Herz aufgehen zu lassen“
Es gibt nicht viele Schriftsteller, deren Texte ich so gerne lese, dass ich den Zitaten oder den erwähnten Büchern folge. Vielleicht 3 oder 4?
Und Dobler hat mich als einziger einfach dazu gebracht anspruchsvollere Literatur zu lesen. Dafür bin ich heute noch dankbar.
Am 19. Februar 2010 um 08:18 Uhr
Auch wenn man selbst bloss ein Zwerg ist: Stellt man sich auf die Schultern seiner Vorgänger, ragt man doch ein bisschen über sie hinaus und sieht ein bisschen weiter.
Am 19. Februar 2010 um 08:31 Uhr
@Markus: :)
Am 19. Februar 2010 um 09:32 Uhr
Schönes Bild, gell? :-)
Es ist vor allem im angelsächsischen Raum verbreitet. (Einen kurzen Überblick über seine Geschichte findet man auf Wikipedia.)