••• Als mein Großvater 1933 auf Schleichwegen Deutschland verließ, hatte er nur noch seine Mutter, die ihn an der Hand hielt, und die Sachen, die er am Leib trug. Er trug freilich auch Erinnerungen mit sich, etwa an seinen Vater, wenige Tage zuvor in der Nacht abgeholt und totgeschlagen. Und natürlich hatte er die deutsche Sprache, die einzige, die er verstand. Auch seine Mutter und seine Sprache hätte er verlieren sollen, wäre es nach dem Willen der »Gastgeber« im Exil-Land gegangen.
Er kam in die Sowjetunion. Stalin misstraute den deutschen Exilanten, und so trennte man die Kinder von den Eltern, um wenigsten sie noch zu loyalen Sowjetkommunisten erziehen zu können. Man schickte die Kinder ins »Allunions-Pionierlager Artek«. Deutsch zu sprechen, war dort verboten. Die Sprache des Feindes abzulegen und ins Russische einzutauchen, war elementarer Bestandteil des Umerziehungsprozesses.
Zurück nach Deutschland kam mein Großvater als Sanitäter der Roten Armee und wurde als Übersetzer verpflichtet, zunächst für den russischen Stadtkommandanten, später für das Politbüro des ZK der SED. Sein Leben lang hat er Depeschen und Dokumente übersetzt, die zwischen Ost-Berlin und Moskau ausgetauscht wurden.
Ich habe ein Manuskript von ihm geerbt, dessen Bedeutung mir erst gestern bewusst geworden ist, als Markus A. Hediger mit dem Beitrag »Herr Grau übersetzt« hier im Turmsegler seine Gastkolumne wieder aufgenommen hat – fortan unter dem Titel »Graupausen«.
In der Kolumne heisst es:
Herr Grau kämpft sich durch die Menschenmenge auf der Straße zur U-Bahnstation durch. Noch immer liegen seine Nerven blank, daran ändert auch die jetzt hinzugekommene Nachdenklichkeit nichts. Im Brasilianischen liegen die Nerven nicht blank, sondern in der Blüte der Haut, ein viel zu prosaischer Ausdruck für seinen Gemütszustand, findet er. […]
Herr Grau ertappt sich dabei, wie er die Haut seines Unterarmes betrachtet und dabei Ausschau nach Blüten hält.
Das Manuskript, das ich geerbt habe, ist eine Sammlung von Sprichwörtern und Redewendungen, deutschen und russischen, die sich in der Aussage entsprechen, aber zumeist eben doch in völlig unterschiedlichen Bildwelten fußen. Über Jahrzehnte hat mein Großvater an diesen Gegenüberstellungen und fremdartig klingenden Rückübersetzungen von Redewendungen aus dem Russischen ins Deutsche gearbeitet. Abschließen konnte er die Sammlung – man möchte fast sagen: natürlich – nicht, auch veröffentlicht wurden sie nie.
Als ich gestern zum ersten Mal von Herrn Grau las, wurde mir plötzlich klar, wie viel diese Sammlung über meinen Großvater sagt – über die erlittenen Verluste, den erzwungenen Identitätswechsel in der Jugend – nicht nur, aber vielleicht vor allem durch die Sprache. Es kommt mir so vor, als hätte er all die Jahrzehnte versucht, sich selbst zurückzuübersetzen. Und allzu wahrscheinlich wird er ein ums andere Mal festgestellt haben, dass es nicht möglich ist. Dass die Kluft zwischen den Sprachen auch als Riss in ihm selbst klaffte, nicht zu überbrücken und nicht zu heilen.
Am 11. Februar 2010 um 12:40 Uhr
Nach dem Lesen der Kolumne, will man gleich Markus (nicht Herrn Grau ;) ) umarmen und drücken. Toll geschrieben. Berührend!
Am 11. Februar 2010 um 14:40 Uhr
Das ist lieb von dir, Kerstin! Und ich ohrfeige mich noch immer dafür, dass ich während den Monaten, die ich in der Schweiz verbrachte, nicht die Zeit fand, einen kurzen Abstecher nach München zu machen und mich leibhaftig drücken zu lassen :-)
Am 11. Februar 2010 um 14:48 Uhr
Wir sind noch länger da und können warten. :)
Benjamin und Du, Ihr habt beim Schreiben eine sehr seltene Gabe. Das verrate ich Dir dann (falls Du es nicht schon weißt), wenn Du das nächste Mal da bist. Oder wenn Benjamin in Brasilien mal eine Lesung gibt, dann halt bei Euch. ;)
Am 11. Februar 2010 um 14:52 Uhr
Lesung in Brasilien: Möchte sich Benjamins Agentin nicht mal mit dem Goethe-Institut in Verbindung setzen und vielleicht eine Welttournee organisieren? Hier in Rio (Goethe-Institute gibt es in Brasilien auch in São Paulo, Salvador und noch in anderen Städten) werden Lesungen von deutschen Autoren immer sehr gut besucht… Wäre der absolute Hammer, Benjamin samt Familie auf brasilianischem Boden (endlich) persönlich kennenzulernen!
Am 11. Februar 2010 um 14:56 Uhr
Welttournee? *lach
Die Lesungen sind dann auf Deutsch? Mit Übersetzung? Das wäre super! Ich wäre dabei.
Benjamin, leitest Du das an Deine Agentin weiter? :)
Am 11. Februar 2010 um 15:03 Uhr
Die Lesungen wären natürlich auf Deutsch. Und ihr würdet staunen, wie viele Brasilianer sich die Arbeit machen, Deutsch zu lernen – oft aus purer Leidenschaft zur deutschen Kultur. Der aufmerksame und interessierte Goodwill, der hier deutschsprachigen Autoren entgegengebracht wird, den hab ich sonst in diesem Ausmass gegenüber keiner anderen Kultur festgestellt.
Am 11. Februar 2010 um 15:14 Uhr
Das sind wohl die besten Voraussetzungen! :) Oder Benjamin???? ;)
Am 11. Februar 2010 um 15:25 Uhr
Klar. Ich leite das gleich an meine Agentin weiter :-)
Am 15. Februar 2010 um 14:56 Uhr
Magst du ein russisch-deutsches Beispiel geben?
Am 15. Februar 2010 um 15:10 Uhr
@thymianteppich: Die Frage habe ich befürchtet. Ich krame das Manuskript mal raus und schaue, ob sich was blogbares drin findet.
Am 16. Februar 2010 um 21:10 Uhr
[…] ••• Als ich letztens von der übersetzten Identität meines Großvaters schrieb, bat thymianteppich um ein Beispiel […]