Herr Grau übersetzt

10. Februar 2010

»Graupausen« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger

… the very act of translation always involves change and domestication.
Riitta Oittinen
in: »Translating for Children«

1
Herr Grau ist ein unscheinbares Männlein. Das war nicht immer so. Früher, da war er anders gewesen. Ein Mann. Zwar nicht gerade eine imposante Erscheinung, das nun auch wieder nicht. Keiner, der, betrat er einen Raum, alle Blicke auf sich zog. Aber einer, der seine Meinung kundzutun und sich Gehör zu verschaffen verstand. Einer, der nicht nur in Schwarz und Weiß zu denken vermochte, sondern auch den Zwischentönen zu ihrem Recht verhalf. Heute ist er zu einem Männlein verkommen. Grau geworden, im – nicht auf dem – Kopf, ein Zwischenton.

2
Herr Graus Nerven liegen blank. Ungereimtheiten des Lebens haben ihn aus seiner Heimat in diese ferne Stadt am Fuss eines nach einem exotischen Gewürz benannten Berges gespült. Ein Schicksalsschlag, mit dem Herr Grau hadert, denn nichts ist hier so, wie es in seiner Heimat war. Er sieht sich gezwungen, sein Leben in die Sprache der Einheimischen zu übersetzen, was ihm mehr schlecht als recht gelingt. Schon allein dieser letzte Ausdruck: Was sich in seiner Muttersprache mühelos reimt, wird – übersetzt – zu einem holprigen Ausdruck, den kein Mensch versteht.

3
Herr Grau sitzt entnervt an einem Schalter des Straßenverkehrsamts und versucht zu verstehen, was er alles tun und zahlen muss, damit sein Führerschein übertragen werden kann. Er habe die Übersetzungsgebühr bereits bezahlt, versucht er dem Beamten klarzumachen, die Übertragungsgebühr ebenso, worauf dieser nachdenklich nickt, die Formulare und Belege nochmals durchgeht. Es folgt ein leiser Seufzer, der Herrn Grau zu verstehen gibt, dass die Ausstellungsgebühr noch nicht bezahlt sei und dass ohne Begleichung derselben kein staatliches Organ befugt sei, ein offizielles Dokument auszuhändigen. Herr Grau zückt das Portemonnaie, wieder seufzt der Beamte und erklärt ihm, dass nur eine ganz bestimmte Filiale einer ganz bestimmten Bank befugt sei, Zahlungen für das Amt entgegenzunehmen. Und noch ein Tag, der dafür flöten geht.

4
Herr Grau fühlt sich nicht ernst genommen. In meinem Land, versucht er dem Beamten klarzumachen, da erledigt man alles an einem einzigen Ort – in fünfzehn Minuten! Die Augen des Beamten werden klein, jetzt ist es an ihm, die Geduld zu verlieren. Sie sind hier in Bruanien! entgegnet er unwirsch und macht Herrn Grau damit unmissverständlich klar, dass er sich auf fremdem Hoheitsgebiet befindet.

5
Herr Grau ist ein unscheinbares Männlein, aber nicht unsensibel. Die Botschaft ist angekommen. Er hat begriffen. Und begreift, während er sich von seinem Stuhl löst und durch die Tür auf die Straße schleicht, dass er in dieser Stadt nur wird überleben können, wenn er sich die Mühe macht, nicht nur seine Sprache, sondern auch sich selbst ins Bruanesische zu übersetzen. Aber wie?

6
Herr Grau ist belesen. Er liest viel, noch immer, auch hier in der Fremde, vor allem Übertragungen bekannter Werke aus seiner Heimat. So machte er sich mit dem Bruanesischen vertraut, oder besser: fremd, denn dass die Übersetzungen anders waren als ihre Ursprungstexte, das war unübersehbar. Nicht nur Melodie und Rhythmus unterschieden sich, oft auch die Bilder, die durch die verschiedenen Texte in ihm wachgerufen wurden. Vor allem mit den Redewendungen haderte er, hadert er noch immer.

7
Herr Grau kämpft sich durch die Menschenmenge auf der Straße zur U-Bahnstation durch. Noch immer liegen seine Nerven blank, daran ändert auch die jetzt hinzugekommene Nachdenklichkeit nichts. Im Bruanesischen liegen die Nerven nicht blank, sondern in der Blüte der Haut, ein viel zu prosaischer Ausdruck für seinen Gemütszustand, echauffiert er sich. Er versucht, dieser merkwürdigen Metapher auf den Grund zu kommen, fragt sich, wie man für einen Zustand der Gereiztheit auch nur auf den Gedanken kommen könne, eine Blume zu bemühen. Völlig unverständlich, befindet er, doch je länger er sich dieses Bild vor Augen führt, desto ruhiger und gelassener wird er. Unmöglich, an eine Blume zu denken und dabei gehässig zu bleiben.

8
Während die U-Bahn von Station zu Station rattert, Menschen ein- und aussteigen, überlegt sich Herr Grau, wie er das Unternehmen seiner Selbstübersetzung am besten angehen soll. Er besitzt Eigenschaften, für die es keine bruanesische Entsprechung gibt. Aufgeben darf er sie nicht. Das hieße, Verrat begehen am Original. Kein guter Übersetzer darf sich das erlauben. Zugleich aber darf er sich auch nicht gegen die Veränderungen sträuben, die eine Übersetzung unweigerlich mit sich bringt.

9
Herr Grau ertappt sich dabei, wie er die Haut seines Unterarmes betrachtet und dabei Ausschau nach Blüten hält.

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