Handschriftenfund

30. Oktober 2009

Notizen der ersten Leinwand-Sätze (Zichroni)

••• Gerade drüber gestolpert: Die ersten Sätze der »Leinwand« habe ich im Flugzeug nach Israel geschrieben, in ein von der Herzdame geschenktes Moleskine. Man kann den letztendlichen Text immerhin schon erahnen.

 

Amnon Zichroni

Ich glaubte lange Zeit, ich hätte so etwas wie einen sechsten Sinn. Nicht, dass ich tote Menschen sah oder etwas Vergleichbares, das man für übernatürlich hätte halten können. Es war eher das Gegenteil der Fall. Ich meinte, ein Gespür zu haben für das wirklich Vitale in Menschen, ein Gespür dafür, was sie antrieb oder hinderte, etwas zu tun, für jenen Kern in ihnen, den sie selbst in einem offenen Moment vielleicht als ihr Ich bezeichnet hätten.

Was einen Menschen ausmacht, steht ihm nicht ins Gesicht geschrieben. Es lässt sich nicht dem Klang seiner Stimme ablauschen. Man kann es nicht riechen und schmeckt es nicht einmal aus dem Tropfen Schweiß auf der Schläfe im Augenblick der Angst. Wollte man sich auf Berührungen verlassen, wäre man ganz verloren, denn Tastender und Berührter vermischen sich in der Berührung, und man kann nie sagen, ob man nicht mehr von sich selbst wahrnimmt in einem solchen Moment als von dem Menschen, den man zu erkennen hofft. Auch eine Mischung aus all dem ist es nicht.

Nein, das, wovon ich hier spreche, ist mit den uns für gewöhnlich verfügbaren Sinnen nicht zu fassen. Es ist die Melange aus allen Berührungen, Gerüchen, Klängen, Bildern und Geschmäckern, denen unsere Sinne im Laufe der Zeit begegnet sind und die nicht vergessen wurden. Unsere Erinnerungen sind es, die uns zu dem machen, was wir sind. Unser Gedächtnis ist der wahre Sitz unseres Ich.

Erinnerung aber ist unbeständig, stets bereit, sich zu wandeln. Mit jedem Erinnern formen wir um, filtern, trennen und verbinden, fügen hinzu, sparen aus und ersetzen so im Laufe der Zeit das Ursprüngliche nach und nach durch die Erinnerung an die Erinnerung. Wer wollte da noch sagen, was einmal wirklich geschehen ist?

Vergessen, sagt mancher meiner Kollegen leicht dahin, sei der Schorf der Psyche. Wie aber unter Schorf neue Haut wächst, um die Heilung zu vollenden, entsteht auch unterm Vergessen etwas Neues. Ich habe es wieder und wieder an meinen Klienten beobachten können. Denn was jenen sechsten Sinn angeht, auf dem mein Erfolg als Psychoanalytiker beruhte und auf den ich mich immer verlassen konnte: Es war — ein Erinnerungssinn.

Ich roch, schmeckte, fühlte, hörte und sah Erinnerungen anderer Menschen; und ich bin unsicher, ob ich es eine Gabe nennen soll. Täte ich es, müsste ich fragen, wer der Gebende war. Dort, wo ich herkomme, gibt es auf eine solche Frage nur eine Antwort: Ha-Kadosch baruch-hu – der Heilige, gelobt sei er – oder aber Satan, der ewige Versucher, und es hätte einzig an mir gelegen, den Beweis der tatsächlichen Herkunft dieses Geschenks anzutreten. Denn jeder Gabe, so hätte man mir gesagt, wohne ein Anflug des Guten wie auch des Bösen inne, und es läge letztendlich in der Hand des Beschenkten, das Geschenk zu einem Segen oder einem Fluch zu machen.

aus: »Die Leinwand« (Amnon Zichroni)
erscheint am 27. 1. 2010 bei C. H. Beck

2 Reaktionen zu “Handschriftenfund”

  1. Jonathan Beck

    Lieber Benjamin Stein,

    möchten Sie die Textstellen, die Sie gestern so gewinnend vorgelesen haben, nicht hier beim Turmsegler oder auf Facebook als Vorab-Leseprobe veröffentlichen?

    Mit besten Grüßen
    Jonathan Beck

  2. Benjamin Stein

    Den Zichroni-Text, dessen ersten Entwurf man oben als Handschrift sieht, füge ich gern dem Beitrag an. Damit begann die Lesung vor den Vertretern. Im Anschluss gab es eine Kostprobe aus dem Wechsler-Strang der »Leinwand«. Und dieses erste Wechsler-Kapitel konnten die Turmsegler »» hier schon im Juli 2008 anhören.

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