••• Ein grosser Teil der Feiertagsliturgie besteht aus lithurgischen Gedichten, sogenannten Piyutim. Auf die Gefahr hin, eingefleischte Liebhaber dieser Kunst zu bestürzen: Mir fehlt an diesen Texten oft wirkliche Originalität, sei es im Thema oder in der Form. Aber selbstredend gibt es auch – und nicht selten – echte poetische Entdeckungen unter diesen Texten. Von den vielfältigen, häufig über Jahrhunderte tradierten Formen hat mich immer das Achrostichon besonders interessiert. Hier bilden die ersten Buchstaben der Zeilen zumeist einen Namen oder einen Satz, oft jedoch auch die Alphabetfolge mit Anspielung an die mystische Überlieferung, dass die Welt mittels der 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets erschaffen worden sei. Ein Beispiel für diese Formenvariante ist das wohl berühmteste Piyut für Rosh Hashanah: Unetane Tokef.
Dass der Verfasser – es wird Rabbi Amnon von Mainz zugeschrieben – diese Form des Alephbet-Achrostichons gewählt hat, ist sicher kein Zufall. Denn sein Gebet war ein Tikkun, eine Wiedergutmachung oder auch Wiederherstellung. Um zu verstehen, warum dieses Piyut Jahr für Jahr immer wieder die meisten Beter zu Tränen rührt, muss man die Geschichte kennen, die sich um die Entstehung dieses Gebetes rankt. Und diese soll heute erzählt werden. Ich zitiere aus dem Buch „Or Zarua“ von Rabbi Yitzhak ben Mosche aus Wien (1862).
Ich fand eine Handschrift von R. Efraim b. Jacob aus Bunna (Bonn). Darin wird geschildert, dass R. Amnon aus Mainz ein böses Schicksal ertragen musste und danach das Unetanneh Tokkef verfasste.
Ein Geschehnis über Rabbi Amnon, der eine angesehene Persönlichkeit war, reich, von vornehmer Herkunft und von schöner Gestalt und schönem Antlitz. Und die hohen Beamten und der Fürst begannen von ihm zu fordern, dass er sich zu ihrer Religion bekennen solle. Er aber weigerte sich, sie anzuhören. Und auch als sie Tag für Tag auf ihn einredeten, hörte er nicht auf sie, obwohl der Befehlshaber ihn drängte. Eines Tages aber, als sie ihn eindringlich baten, antwortete R. Amnon, dass er sich beraten lassen möchte und die Sache drei Tage überdenken müsse. Er sagte dies, damit er sie von sich fernhalten konnte. Und nachdem Rabbi Amnon vom Fürsten weggegangen war, kam er in seinem Herzen zur Einsicht, dass ein so zweifelhafter Ausdruck aus seinem Mund gekommen war, dass er Rat und Überlegung benötigte, wie er den lebendigen Gott wieder ehren könnte. Er kam nach Hause, wollte nicht essen und nicht trinken, und er erkrankte. Und es kamen alle seine Verwandten und Freunde, um ihn zu trösten. Er aber weigerte sich, Trost anzunehmen und sprach: Ich werde wegen meiner Aussage trauernd in die Scheol fahren. Und er beweinte es und war bis ins Innerste betrübt.
Am dritten Tag, als er Schmerzen litt und besorgt war, fragte der Fürst nach ihm, er aber sagte: Ich werde nicht gehen! Da sandte der Erzfeind abermals noch mehr Fürsten und vornehmere als die anderen, er aber weigerte sich zu gehen. Da sagte der Fürst: Eilet, bringt den Amnon wider seinen Willen! Und sie drängten und brachten ihn. Und der Fürst sagte zu ihm: Was soll dies, Amnon, weshalb bist du nicht zur Zeit, welche du selbst bestimmt hast, erschienen, um mir eine Antwort zu geben und meinen Wunsch zu erfüllen? Amnon antwortete und sagte: Ich werde mir selbst ein Urteil sprechen. Denn die Zunge, die gesprochen und dich angelogen hat, ihr Urteil sei es, dass sie entfernt werde. Rabbi Amnon wollte mit seinen Worten Gott als Heiligen bezeugen. Da erwiderte der Fürst: Deine Zunge werde ich nicht entfernen, denn sie sprach Gutes, aber die Füsse, die zu der von dir bestimmten Zeit nicht gekommen sind, werde ich entfernen, und den restlichen Körper werde ich foltern. Und der Erzfeind gab den Befehl, und man entfernte die Glieder seiner Hände und Füsse, und bei jedem einzelnen Gelenk fragte man ihn, ob er nicht doch zu ihrem Glauben umkehren möchte, er aber sagte nein! Und es war, als sie die Folterung beendeten, da befahl der Bösewicht, den Rabbi Amnon mit all seinen Gliedern in eine Hülle zu legen, und so schickte man ihn nach Hause. […]
Nach diesen Begebenheiten näherte sich das Datum von Rosch-Haschannah. Da verlangte Rabbi Amnon von seinen Verwandten, ihn samt seinen Gliedern zur Synagoge zu tragen und neben den Vorbeter zu legen. Man tat dies so. Und als der Vorbeter die Keduscha vortragen wollte, sagte R. Amnon zu ihm: Warte noch einen Moment, ich werde den grossen Namen heiligen. Und er sprach mit lauter Stimme: Zu dir steige die Keduscha empor, das heisst: Ich habe deinen Namen um deines Königreiches willen geheiligt und ich habe deine Einzigkeit bekannt.
Und danach sagte er das Unetanneh Tokkef Keduschat ha-Yom zur Heiligung des Tages. […] Und als er das Silluk [Piyut] beendet hatte, wurde er von der Welt getrennt, und er war verborgen…
Rabbi Yithak ben Mosche aus Wien
„Or Zarua“ (gedruckt 1862)
Am 12. September 2007 um 00:03 Uhr
[…] Und dies ist der Piyut, den Rabbi Amnon der Überlieferung nach an Rosh Hashanah sagte, bevor er starb. In der Aufnahme ist einer der […]