Wolfgang Koeppen – Foto: © Stefan Moses
••• Jetzt sind die bestellten Koeppen-Bücher da, und ich weiß gar nicht, wo ich beginnen soll. Vielmehr: Ich habe ja begonnen – und zwar mit »Tauben im Gras« – aber am Freitag kam auch der Briefwechsel, den Koeppen über 36 Jahre mit seiner Frau Marion führte, und gleich habe ich mich auch dort festgelesen, dem Marketing-Wiesel des Verlags auf den Leim gegangen. Denn was steht da im Klappentext? Man hätte über Jahre angenommen, das Zusammensein mit der um so viel jüngeren und schwer mit Alkoholproblemen beladenen Frau sei verantwortlich gewesen für Koeppens jahrzehntelanges Schweigen; doch legten die Briefe, Telegramme und eilig hingeworfenen Zettelbotschaften nun etwas anderes nahe. Ach ja? Und schon ist das Buch aufgeschlagen und man liest sich hinein in die fremden intimen Botschaften, als stöbere man in einem Gossip-Blatt.
Woher rührt nur das ungebrochene Interesse am Privatleben der geschätzten Autoren? Was steckt dahinter, dass man sich gerade deren Leben ausgespäht wünscht? (So ist es ja offenbar.) Ist denn die Frage, warum Koeppen so lange schwieg, existentiell? Oder ist das Schlüssellochlinsen allgemein eine Attraktion, umso mehr, wenn der Ausgespähte Bücher geschrieben hat, die man schätzt?
Ich war sehr irritiert, als ich unter einem der Briefe die Grußformel las, die in einem meiner früheren Leben so etwas wie ein geflügeltes Wort war: »Gruß und Kuß, Kopernikus«. So nannte sich Koeppen, und Gruß und Kuß gingen an Marion. (Nein, fällt mir jetzt auf: Bei uns hieß es »Hieronymus«.)
Vielleicht, denke ich mir, ist Parallellesen gar keine schlechte Idee, die Romane und daneben die Briefe aus der jeweiligen Zeit des Schreibens. Die Frage ist ja aufgeworfen, die zumindest Unseld heftig umgetrieben haben muss: Warum schweigt der Mann? Warum behält er den erwarteten großen Roman für sich? Da schaue ich nun auf die Botschaften und gleichzeitig auf Emilia und Philipp aus »Tauben im Gras« und bin versucht, ein dort gestaltetes Bild für eine Fotografie zu halten: Wolfgang und Marion.
Als bräuchte es einen Grund zum Schweigen. Das ist schließlich der natürliche Zustand des Dichters. Wenn die Dämme mal brechen, ist es ein Wunder. Und wer ist auf Wunder schon abonniert?
Die böse Emilia wandte sich gegen die Menschen. Sie fuhr hoch und rief: »Philipp!« Sie lauschte, die Züge ihres Gesichts zwischen Weinen und Erbitterung. Philipp hatte sie verlassen! Sie knipste die Bettlampe an, stand auf, rannte nackt durch das Zimmer, drehte den Schalter für das Deckenlicht, silberne Kerzenbirnen, die sich in grünspanbedeckten Mispelzweigen wiegten, Wandarme entflammten, Licht, das sich in Spiegeln wiederholte, vervielfachte und von Lichtschirmen gefärbt, gelb und rötlich, wie gelbe und rötliche Schatten auf die Haut der Frau fiel, auf ihren fast noch kindlichen Leib, die hohen Beine, die kleinen Brüste, die schmalen Hüften, den glatten elastischen Bauch. Sie lief in Philipps Zimmer, und das natürliche Licht des trüben Tages, das hier durch das unverhüllte Fenster drang, ließ ihre hübsche Gestalt plötzlich erbleichen. Die Augen glänzten krank, lagen unter Schatten, das linke Lid hing herab, als wäre es aller Spannkraft beraubt, die kleine eigensinnige Stirn war gefurcht, Schmutzteilchen staken in der Haut, die schwarzen Haare baumelten in kurzen Zotteln ins Gesicht. Sie betrachtete den Tisch mit der Schreibmaschine, das weiße unbeschriebene Papier, die Requisiten der Arbeit, die sie verabscheute und von der sie sich Wunder versprach, Ruhm, Reichtum, Sicherheit, über Nacht gewonnen, in einer Rauschnacht, in der Phillip ein bedeutendes Werk schreiben würde, in einer Nacht, doch nicht an vielen Tagen, nicht in einer Art Dienst, nicht mit dem stetigen Geklapper der kleinen Schreibmaschine. »Er ist unfähig. Ich hasse dich«, flüsterte sie, »ich hasse dich!« Er war gegangen. Er war ihr entlaufen. Er würde wiederkommen. Wo sollte er hingehen? Aber er war gegangen; er hatte sie allein gelassen. War sie so unerträglich? Sie stand nackend in dem Arbeitsraum, nackt in dem Tageslicht, eine Straßenbahn fuhr vorüber, Emilias Schultern sackten ein, die Schlüsselbeinknochen traten hervor, ihr Fleisch verlor an Frische, und ihre Haut, ihre Jugend, war wie mit abgestandener, mit geronnener Milch übergossen, für eine Sekunde käsig, säuerlich, krümelig. Sie legte sich auf das rillige Ledersofa, das fest und kalt wie ein Doktorbett und darum ihr unheimlich war, und sie dachte an Philipp, zauberte ihn durch Denken herbei, zwang ihn in den Raum zurück, den Komischen, den Unfähigen, den Nicht-Geschäftsmann, den Gefährten, den Geliebten, den Gehaßten, den Schänder und Geschändeten. Sie steckte ihren Finger in den Mund, umzüngelte ihn, feuchtete ihn an, ein kleines Mädchen, nachdenklich, verlassen, ratlos, streichle-mich, sie nahm den Finger, spielte an sich, ließ ihn in sich eindringen und fiel in die tiefe Betäubung der Lust, die ihr, dem Tag zwar schon preisgegeben und von seinem Schein schon feindlich überschüttet, noch ein Stück innerer Nacht gewährte, eine Spanne Heimlichkeit und Liebe, ein Hinauszögern —
[…] Erschöpfung perlte auf ihrer Stirn, jede Perle ein Mikrokosmos der Unterwelt, ein Gewimmel von Atomen, Elektronen und Quanten, Giordano Bruno sang auf dem Scheiterhaufen das Lied von der Unendlichkeit des Alls, Boticellis Frühling reifte, wurde Sommer, wurde Herbst, war es schon Winter, ein neuer Frühling? ein Embryo des Frühlings? Wasser sammelte sich in ihren Haaren, sie fühlte sich feucht an, und vor ihrem glänzenden, im Feuchten schwimmenden Blick schien Philipps Schreibtisch ihr wieder ein Ort des Zauberns, ein gehaßter Ort freilich, aber die Stätte des möglichen Wunders zu sein: Reichtum und Ruhm, auch sie in rühmlichem Reichtum und in Sicherheit! Sie taumelte. Die Sicherheit, die ihr die Zeit genommen hatte, die ihr das verkündete, angefallene und entwertete Erbe nun versagte, die ihr die Häuser nicht mehr gewährten, die Risse in den Mauern, überall Risse in der Materie, würde ihr diese verlorene, wie ein Hochstapler aufgetretene und wie ein Hochstapler geplatzte Sicherheit der schwache, mittellose, von Herzklopfen und Schwindel gequälte Philipp bringen, der, immerhin, das war neu für sie, mit dem Unsichtbaren in Verbindung stand, dem Gedanken, dem Geist, der Kunst, der hier sein Sach auf nichts gestellt, aber dort im Spirituellen vielleicht ein Guthaben hatte? Vorerst aber war jede Sicherheit hin. Philipp sagte, es habe nie eine Sicherheit gegeben. Er log! Er wollte sein Gut nicht mit ihr teilen. Wie könnte er ohne Sicherheit leben? Emilia war nicht schuld, daß die alte Sicherheit eingestürzt war, in deren Schoß zwei Generationen sich’s gemütlich gemacht hatten. Sie wollte Rechenschaft! Sie forderte ihr Erbe von jedermann, der älter war als sie. Sie war in der Nacht durchs Haus gerast, eine kleine schmächtige Furie, von ihren Tieren gefolgt, den nicht reden könnenden und darum unschuldigen Lieblingen, gestern, als Philipp sich drückte, als er ihre Schreie nicht zu ertragen meinte, ihr sinnloses Aufbegehren treppauf treppab zum Hausmeister in den Keller, Füße und Fäuste gegen die geschlossene Tür: »Ihr Nazis, warum habt ihr ihn gewählt, warum habt ihr das Elend gewählt, warum den Abgrund, warum den Untergang, warum den Krieg, warum das Vermögen in die Luft geschossen, ich hatte ja Geld, ihr Nazis« (und der Hausmeister lag hinter der verriegelten Tür, hielt den Atem an, rührte sich nicht, dachte »warte es geht vorüber, ein Wetter, es kommt wieder anders, sie beruhigt sich«), und die andern Nazis hinter anderen Türen im Haus, ihr Vater hinter der gesicherten Schloßfalle ein Miterbe »du Nazi, du Tor, Verschleuderer, mußtest marschieren, mußtest mitmarschieren, mitlaufen, bist Mitläufer, Hakenkreuz auf der Brust, futsch das Geld, konntet ihr nicht Ruhe geben? mußtet ihr kläffen?« (und der Vater saß hinter der Tür, hörte nicht den Schrei, stellte sich nicht der Anklage, gerechtfertigt oder nicht, hielt die Akten vors Gesicht, die Bankpapiere, die Schuldbriefe, die Hinterlegungsscheine, rechnete »und dies bleibt mir noch und dieser Anteil und jener und dort ein Fünftel vom Nebenhaus und vielleicht die Berliner Hypothek, aber im Ostsektor, wer weiß« USA GEGEN PRÄVENTIVKRIEG). Warum sorgte Philipp sich nicht? Vielleicht, weil er von dem mitzehrte, was sie noch hatte, vom Gott der Großeltern, und sein Gott war ein falscher Gott? Wenn man es alles wissen könnte! Das blasse Gesicht zuckte. Sie taumelte nackt zum Schreibtisch, nahm ein Blatt vom Stoß des weißen unbeschriebenen Papiers, vom Häufchen der Reinheit der ungeschehenen Empfängnis, spannte es in die kleine Maschine ein und tippte vorsichtig mit einem Finger: »Sei nicht böse. Ich liebe dich doch, Philipp. Bleib bei mir.«
Wolfgang Koeppen, aus: »Tauben im Gras« (Roman)
© Suhrkamp Verlag (1972, 2008)