Jugend

12. September 2009

Wolfgang Koeppen (1991), Foto: Joseph Gallus Rittenberg
Wolfgang Koeppen (1991), Foto: Joseph Gallus Rittenberg

••• Letztens sprach ich mit Dina, die hier in München das jüdische Altenheim leitet, in der Synagoge über Wolfgang Koeppen. »Den haben wir alle sehr gemocht«, sagte sie. Wie wir auf ihn zu sprechen gekommen sind, weiß ich nicht mehr. Aber ich erfuhr einige wohl weniger bekannte Geschichten aus seinen letzten Jahren. Sein Verleger Unseld hatte für den hochbetagten Schriftsteller, als er sich nicht mehr allein zu Hause behelfen konnte, mit verschiedenen Altenheimen in München verhandelt, den mittellosen Autor ohne Krankenversicherung aufzunehmen. Das jüdische Altenheim erklärte sich bereit, obgleich Unseld nicht die vollen Kosten tragen konnte. Der Verleger hoffte noch immer auf den lange erwarteten »großen Roman«; und so bekam Koeppen ein Appartement mit zwei Zimmern und einer kleinen Terrasse und dazu eine Sekretärin. Sie soll nicht sehr helle gewesen sein, was wohl eine Voraussetzung dafür war, tagelang mit gezücktem Block neben Koeppen auszuharren, dem zunehmend Altersdemenz zusetzte und der weit davon entfernt war, noch ein großes Werk zu diktieren, wie Unseld hoffte.

– Wo bin ich denn?
– Im jüdischen Altersheim, Herr Koeppen.
– Soso… Aber ich esse keine Zwiiiiiebeln!

Die Tagesdosis seines geliebten Rotweins bekam er über die Sonde eingeflößt, was ihn glücklich stimmte und ihn auch mal versonnen bis entschieden – wenn auch vergebens – nach einer 18jährigen verlangen ließ. Aber er schrieb nicht und diktierte auch nicht, und irgendwann zog Unseld die Sekretärin ab. Auch das Appartement schien schließlich übertrieben. Gestorben ist Koeppen dann 1996 in einem anderen Heim.

Dass ich über Koeppen hier noch nicht geschrieben habe, ist eigentlich unfassbar. Das liegt wohl daran, dass ich zwar ein Buch von ihm – »Jugend« – spät entdeckt habe (ein Geschenk von Richard Marx), seitdem aber wie einen Schatz hüte und immer wieder zur Hand nehme, um mit Hochgenuss ein paar Seiten darin zu lesen, dass ich aber nie seine Reportagen und die anderen Bücher, mit denen er bekannt geworden war, gelesen habe. Jetzt habe ich sie mir immerhin bestellt.

Bei Suhrkamp sind die drei kurzen Romandichtungen »Tauben im Gras«, »Das Treibhaus« und »Der Tod in Rom« in einem Sammelband erschienen. Mit dieser kritischen Trilogie hatte er im Adenauer-Deutschland für Unruhe gesorgt und war auf Ablehnung gestoßen. Die erzählte Dichtung »Jugend« erschien 1976 bei Suhrkamp. In den folgenden drei Jahrzehnten bis zu seinem Tod wurde Koeppen zum »großen Schweiger«. Auf einen weiteren großen Roman warteten Unseld und Publikum vergebens.

Beim Stöbern im Netz bin ich noch auf zwei weitere Bücher gestoßen, die ich bestellen musste. Da ist zum einen »Wolfgang Koeppen: Ich?«, ein Gespräch mit Nomi Baumgartl aus den späteren Jahren. Zum anderen freue ich mich auf den von Anja Ebner herausgegebenen Briefwechsel zwischen Wolfgang Koeppen und seiner 21 Jahre jüngeren Frau Marion, über den es auf den Webseiten des Deutschlandfunks Interessantes nachzulesen gibt.

 

Sie hörte ihn, wie er die Treppen heraufstieg, sie hörte seinen gehemmten, seinen schuldbewussten Tritt, er war drüben gewesen, in Feetenbrinks Haus, und ihr war, als ob er als Mann da hinüber gegangen wäre, als ihr Mann oder auch als ihr Sohn, später, erwachsen und zu ihrem Kummer, ein Herumtreiber, unehrlich, ein Mädchenverderber, so wurde er angesehen, der Schande war nie ein Ende, und hatte sie sich bewährt, besonnen wie die Leute sagten, gebessert, nachdem sie Unglück gehabt hatte, so konnte doch für ihn noch das Gericht kommen, die Erziehungsanstalt, das Gefängnis, die vergitterten Fenster, die man vom Kastanienwall sah, beim Spazierengehen und mit geschwollenem Schauer, sein Vater hatte Tennis gespielt auf dem Platz unterm Kastanienwall vor der grauen hohen Mauer, und sie hatte zugesehen, von oben, vom Wall her, wie er, sein Vater, über den roten Sand des Tennisplatzes gesprungen war, in langen weißen Hosen, die mit einem breiten Gummiband über den Schuh gespannt waren, den weißen Panamahut auf dem Kopf, dem Netz zu, hinter dem Ball her, und sie hatte den Platz nicht betreten dürfen, der für die Mitglieder des Akademischen Tennisclubs reserviert war, und vielleicht hat ein Gefangener, ein Dieb, ein Mörder, über die Gefängnismauer hinweg, durch das kleine vergitterte Fenster der Zelle hindurch sie auf dem Wall unter den Kastanien gesehen und sie beneidet, wie sie dem Tennisspieler zusah, sie musste streng sein mit ihm, ihrem Kind von ihm, es war ihre Christenpflicht, und sie ahnte, sah es durch die Tür hindurch, er hatte etwas geschenkt bekommen, hielt es fest umklammert in seiner kleinen schmutzigen Hand, er wartete, er zitterte schon, daß er es hergeben sollte, und er zögerte vor der Tür und wollte nicht hineinkommen und von dem Geschenk lassen, er klammerte sich an die Gabe einer dieser Sängerinnen, dieser reisenden heimatlosen aus dem Elternhaus geworfenen Tingeltangelteusen, die sie, wie alle Welt, verachtete und insgeheim auch beneidete, denn wer wußte es, vielleicht waren diese Geschöpfe frei, vielleicht lebten sie endlich glücklich jenseits dieser Grenze von Wohlanständigkeit und moralischem Hochmut, die für sie nur das Land der Armut war, während diese Animierdamen das gute Land der Anständigen hinter sich gelassen hatten und vielleicht auch die Armut und nun die knechteten mit Laune, Verweigerung, Betrug und Ausnützung, die sie knechteten, aber dies zu denken, war schrecklich gefährlich, sie durfte so nicht denken, diese Grenze, an die man sie schon gestellt hatte, mußte gezogen bleiben, sie wäre sonst verloren gewesen in ihrer Stadt. […]

Wolfgang Koeppen, aus: »Jugend« (Erzählung)
© Suhrkamp Verlag (1976)

3 Reaktionen zu “Jugend”

  1. andreas louis

    Das sind sehr feine Gedanken, Benjamin! Ich erinnere mich, wie ich vor vielen Jahren einmal während des Münchener Filmfestes Wolfgang Koeppen, den ich immer wieder begeistert lese, persönlich beobachten konnte. Ich sass in einem Kino und wartete. Wenn ich mich nicht irre, wurde der Film DAS TREIBHAUS gezeigt. Wolfgang Koeppen kam spät. Ein kleiner, langsam und gebückt gehender Herr, der von niemandem begrüsst wurde. Er nahm in einer der letzten Reihen Platz. Das starke Glas seiner Brille. Sein seltsames Lächeln, das ich nie vergessen habe. Und auch jetzt wieder, so viele Jahre später, der Eindruck, Wolfgang Koeppen wäre heimlich zu uns ins Kino gekommen.

  2. Connie

    Ich habe als Studentin jedes Jahr Wolfgang Koeppen zum Geburtstag einen Geldschein geschickt, damit er gut essen kann (was er sehr liebte, sich aber nur selten leisten konnte)

    Koeppen ist in meinem Leseleben immer ein fester Angelpunkt gewesen und ich finde es wunderbar, daß dieser Außenseiter immer wieder Unterstützung und engagierte Leser fand und heute auch noch findet.

    Das Koeppenhaus in Greifswald legt sehr gut Zeugnis ab über seine Arbeit, sehr zu empfehlen!

  3. Ungeschehene Empfängnis « Turmsegler

    […] Jetzt sind die bestellten Koeppen-Bücher da, und ich weiß gar nicht, wo ich beginnen soll. Vielmehr: Ich habe ja begonnen – und […]

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