Altar of Dis-Ease – © by ~ray00@deviantart.com (2003-2007)
Ich sah im Traum dich auf der Totenbahre.
Das Zimmer, wo du lagst, war blau erhellt.
Ich trat zu dir heran wie zum Altare,
auf den das Herz das letzte Opfer stellt.
Da lagst du streng und starr. Um deine Haare
bog sich der Schmetterling des Abendrots.
Ich streute blindlings meine jungen Jahre
wie Rosenblätter über deinen Tod.
Die Welt lag wesenlos um deine Hülle,
wie ein gedehnter Schatten um das Licht,
bis alles hinschwand. – Nur dein Angesicht
hing weiß wie eine Wolke in der Stille.
Dann schlug mein Leben beide Augen zu.
Kein Raum war, und kein Ich, kein Du. Nur Ruh.
Rose Ausländer
aus: „Der Regenbogen“ (Sonette), XI
••• An manche Träume erinnert man sich sehr lebendig noch nach Jahren. In gleich zwei solchen Träumen, die mich so aufgewühlt haben, dass ich sie wahrscheinlich nie vergessen werde, bin ich zum Mörder an geliebten Menschen geworden.
In einem dieser Träume war mir nicht bewusst, wie die Tat geschehen war. Ich wusste lediglich, dass ich meine Urgrossmutter ermordet und in meinem Bettkasten versteckt hatte. Die panische Ratlosigkeit darüber, was nun geschehen müsste, und die markerschütternde Angst, entdeckt zu werden und dabei nicht einmal zu wissen, wie und warum ich sie getötet hatte – diese Gefühle sind durch nichts je im Wachen Erlebte an Dramatik übertroffen worden.
Im zweiten Traum musste ich mir selbst zusehen, wie ich meine Freundin mit dem Brotmesser erstach. Es war meine erste feste Freundin. Wir waren etwa 15. Und der Traum war mir umso unerklärlicher, als ich tatsächlich täglich um ihr Leben bangen musste. Sie war magersüchtig und stark suizidgefährdet und überlebte einen Versuch, sich zu töten, nur knapp.
Ein Psychoanalytiker hat mir viele Jahre später erklärt, dass solche Träume nicht ungewöhnlich sind, wenn man mit Verlustängsten kämpft. Das Unbewusste inszeniert eine Situation, in der unvermeidlich eintritt, was man am meisten fürchtet: der Verlust. Dass man in solchen Träumen selbst zum Täter wird, läge daran, dass die ganze Kraft, die man im Wachen aufwendet, der Angst Herr zu werden, sich im Traum in eine Aktion wandeln muss, mit der man den Zustand herbeiführt, vor dem man sich fürchtet. So träume man nicht etwa das friedliche Einschlafen der Urgrossmutter oder von den aufgeschlitzten Pulsadern der Freundin. Nein, indem man tätig wird, beendet man den unerträglichen Zustand der Ohnmacht in der Angst, um sich schliesslich voll und ganz mit der Situation des Verlustes zu konfrontieren.
Ob das nun so ist oder nicht – die Worte hatten jedenfalls etwas Tröstliches; und ich konnte mir wenigstens vergeben, überhaupt so etwas geträumt zu haben. Die Träume nämlich waren mir tatsächlich fast wie ein reales Verbrechen erschienen.
An jene Träume nun fühlte ich mich erinnert, als ich obiges „Regenbogen“-Sonett von Rose Ausländer las, das letzte übrigens des Zyklus. Die Dichterin geht feinfühliger mit sich – und uns – um, als es das Unbewusste mitunter in unseren Träumen tut. Doch auch sie inszeniert den Tod des Geliebten, um die Dimension des Verlustes zu durchleben, sich zu konfrontieren und so vielleicht der Angst doch ein Schnippchen zu schlagen.