»Krötenwanderung« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger
Milton Nascimento (* 1942)
Jede Ankunft ist auch ein Abschied, jede Begegnung nimmt die Trennung schon vorweg, sang Milton Nascimento 1985 und in den Jahren danach. Das Lied des kleinen schwarzen Sängers aus Rio de Janeiro begleitete mich durch meine Jugend in São Paulo. Es wurde zum sound track meiner ersten Liebe, musikalisch untermalte es den Verlust dieser Liebe. Als ich Ines gestand, dass ich sie nicht mehr liebte, verpasste sie mir eine Ohrfeige, und das Radio spielte Milton Nascimentos »Encontros e despedidas«. Ankunft und Abschied sind Beginn und Ende derselben Reise, sang es aus den Boxen ihres VW-Käfers. Ines wollte einen letzten Kuss. Wir hätten uns, sagte ich ihr, zum Abschied schon geküsst. Vor zwei Jahren, in diesem selben VW-Käfer. Erinnerst du dich nicht mehr an unseren ersten Kuss? Wenn unsere erste Begegnung diesen Moment der Trennung schon in sich getragen hatte, dann unser erster Kuss auch schon den letzten.
Das Leben wird einfacher, wenn man begreift, dass es aus einem ständigen Kommen und Gehen besteht. Ich nahm Abschied von Ines und wenig später auch von Brasilien. Ich nahm ihn leicht. Nach Ines würde eine andere Liebe kommen und nach Brasilien ein anderes Land. Über die Ankunft in der mir damals noch unbekannten Schweiz machte ich mir keine Gedanken, denn auch dort würde ich – behielte Milton Nascimento Recht – nicht ewig bleiben. Wenn das Leben ein ständiges Kommen und Gehen ist, so gibt es ein Bleiben nicht. Das Leben ist ein Vorübergehen, und es tut gut daran, wer seinen Koffer fertig gepackt in Griffweite aufbewahrt.
Bei meiner Wiederankunft in Rio nun steht am Gepäckband ein kleiner schwarzer Mann in dunklen Jeans und rotem Jackett. Ich erkenne Nascimento sofort. Er wirkt etwas verloren, hilflos fast. Ich frage, ob ich ihm helfen könne, und wuchte auf sein Zeichen hin einen alten Koffer vom Band. Die Klappschlösser daran wirken eingerostet. Er bedankt sich mit einem Nicken und schiebt seinen Wagen vor sich her durch den Zoll. Ich weiss noch, wie ich mich darüber wundere, dass dieser berühmte Mann allein reist und niemand ihn begleitet. Doch da winken mich die Zollbeamten auch schon durch, hinein in die riesige Ankunftshalle. Von Abschied kann keine Rede sein: Ich bin wieder daheim.
Erst nach einer Weile, als ich mich mit meiner Familie langsam in Richtung Parkhaus in Bewegung setzen, bemerke ich, wie die Menschen um uns herum den kleinen berühmten Mann anstarren, der verloren inmitten der riesigen Ankunftshalle steht. Und ich begreife, dass nur abgeholt werden kann, wer auch bereit ist zu bleiben. Ganz egal, für wie lange.
»Pack deinen Koffer aus«, ist denn auch das erste, was meine Frau mir rät, als wir zu Hause ankommen.