Ich habe dich Gerte getauft, weil du so schlank bist
und weil mich Gott mit dir züchtigen will,
und weil eine Sehnsucht in deinem Gang ist
wie in schmächtigen Pappeln im April.
Ich kenne dich nicht – aber eines Tages
wirst du im Sturm an meine Türe klopfen,
und ich werde öffnen auf dies Klopfen,
und meine zuchtlose Brust wird gleichen Schlages
an Deine zuchtlosen Brüste klopfen.
Denn ich kenne dich – deine Augen glänzen wie Knospen
und du willst blühen, blühen, blühen!
und deine jungen Gedanken sprühen
wie gepeitschte Sträucher an Sturzbächen;
und du möchtest wie ich den Stürmen Gottes trotzen
oder zerbrechen!
Richard Dehmel (1863-1920)
••• Von der Angst vor dem Weiblichen und religiösen Reaktionen darauf war gestern die Rede. Und prompt – es gibt ja keine Zufälle – stosse ich auf ein traumhaftes Gedicht von Richard Dehmel. Wie sich das Ich hier trotzig in das antizipierte Gefürchtete hineinfallen lässt und den Schmerz in Kauf nimmt — das hat und gibt enorme Kraft.
Ulrich Janetzki liest: „An die Ersehnte“