„Sample of 3D Neuroimaging“ – © York Neuroimaging Centre
Reemtsma:
[…] Deshalb sind Sie für Ihre Persönlichkeit und Ihr Handeln verantwortlich – wer sonst? Der Mensch ist keine willenlose Wachstafel, in der die Umwelt ihre Gravuren hinterlässt.
Markowitsch:
Warum bin ich denn keine Wachstafel? Alles, was je auf mich eingewirkt hat, ist in mein Gehirn eingegraben. Unser Handeln ist durch die Verschaltungen in unserem Gehirn determiniert. Viele davon sind stabil. Andere verändern sich ständig im Wechselspiel mit der Umwelt, mit dem Werden und Vergehen von Neuronen und der Ausschüttung von Neurotransmittern. Das gibt uns das Gefühl, wir handelten aus freier Entscheidung, Tatsächlich spielt sich unsere Gehirntätigkeit in grossen Zügen unbewusst ab, gesteuert durch das emotionale Erfahrungsgedächtnis. Der freie Wille ist eine Illusion.
Reemtsma:
Das ist doch Unfug! Herr Markowitsch, Sie reden, als gäbe es einen Unterschied zwischen Ihnen und Ihren Neuronen. Es scheint, manche Neurobiologen haben ein interessant distanziertes Verhältnis zu ihrem eigenen Gehirn.
„Neuronen sind nicht böse“, Spiegel Nr. 31/2007 S. 117 ff.
••• Der gestern erwähnte Spiegelartikel hat es wirklich in sich. Berichtet wird über neuere Erkenntnisse der Neurobiologie.
So etwas wie das Grundprogramm eines moralischen und ethischen Empfindens sei in bestimmten Hirnregionen vorgeprägt. Wir kämen bereits damit auf die Welt; und was wir moralisches Bewusstsein nennen, erfahre durch Erziehung nur bestimmte kulturelle Ausformungen. Basis allerdings sei das evolutionär vorgeprägte Neuronengeflecht in den identifizierten Hirnregionen. Sei es nicht vorhanden, beschädigt oder in seiner Funktion eingeschränkt, etwa durch Unfälle, Tumore oder neurobiologische Fehlentwicklungen, fehlen die für moralisches Handeln – Ergebnis einer Abwägung zwischen Ratio und empathischem Empfinden – notwendigen Voraussetzungen.
Der Schluss liegt nun nahe, dass Verbrechen neurobiologisch determiniert sein könnte. Dass es mit dem freien Willen nicht weit her sei. Dass es so etwas wie Schuld nicht gäbe. Dass Justiz und Strafsystem ersetzt werden müssten durch neurobiologische Diagnostik und (Um-)erziehung der Täter.
Das Gespräch zwischen dem Hirnforscher Hans Markowitsch und dem Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma ist ein journalistisches Highlight. Die beiden schonen einander nicht. Und von der intellektuellen Herausforderung der aufgeblätterten Gedankengänge abgesehen, präsentiert sich hier auch noch ein grosses literarisches Sujet.
Tony Blair habe es für Grossbritannien schon angeraten, und sicher würde es früher oder später gängige Praxis werden, dass man Jugendliche auf neurobiologische Auffälligkeiten hin untersucht und gegebenenfalls präventiven Erziehungsprogrammen zuführt. Ob das eine traumatische Erfahrung für solche Kinder sein könnte? Nun, immerhin ist das ein bisschen besser als Euthanasie. Damit den Familien (und den Kindern) die unangenehme Erfahrung erspart bleibt, wird sich sicher die Gentechnik anbieten, entsprechende Embryonen bereits frühzeitig auszusortieren. (Es wären ja eh nur Verbrecher geworden!) Und noch ein wenig später wird sich eine ganz neue Form des Schuld- und Sündebegriffes prägen: Kinder „freier Liebe“, die unter Umgehung des Gen-Architekten gezeugt wurden, und deren Eltern könnten dann doch wieder schuldig sein und Träger einer runderneuerten Form der Erbsünde. Sie werden der Lobotomie zugeführt, nachdem die Wunden der Zwangssterilisation geheilt sind.
Kann die Entdeckung eines moralvorgebenden Neuronengeflechts aus der Verantwortung entlassen? Oder wird nicht Menschsein immer eine Herausforderung bleiben, der jeder einzelne sich stellen muss, wie ungleich auch immer das „neurobiologische Rüstzeug“ zugeteilt worden sein mag?