„Zerstörung des Tempels in Jerusalem“ von Francesco Hayez

••• Heute ist Tisha b’Av, der 9. Av des hebräischen Kalenders. Es ist der Jahrestag beider Tempelzerstörungen, der Jahrestag der Niederschlagung des Bar-Kokhba-Aufstands, der Jahrestag diverser Kreuzzugsprogrome, der Jahrestag der Verteibung der Juden aus Spanien (1492), der Jahrestag der Befehlsausgabe durch Hermann Göring an SS-General Reinhard Heydrich (1941) zur „Endlösung der Judenfrage“.

In einer alten portugiesischen Synagoge in Amsterdam, so wurde mir berichtet, treffen sich die Männer in der Nacht zur Lesung der „Klagelieder“. Jeder, der eintritt, grüsst die anderen mit dem Satz: „Wir sind Tote, alle!“

Ich faste nicht. Es muss eine konstruktivere Art geben, mit diesem erschreckenden Datum umzugehen, als hunderte, tausende Jahre die Erinnerung zu beschwören, zu fasten, sich nicht zu rasieren und zu waschen, nicht zu arbeiten und schon drei Wochen vor diesem Datum ängstlich den Anflug allen Lachens zu vemeiden, geduckt in Erwartung neuer Katastrophen. Angst fesselt. Die Betonung dieses Tages häuft wie eine selbsterfüllende Prophetie Unheilserwartung auf einen Tag im Kalender – ganz vergleichbar dem 9. November.

Trauer ist nur die erste Stufe der Verarbeitung, sie macht nichts wieder gut, stellt nichts wieder her. Trauer ist kein Tikkun. Doch Jahrestage wie dieser brauchen einen Tikkun, Aktivität statt passivem Sitzen und Lamentieren in Sack und Asche.

Am 9. Av, so die Prophezeihung, würde einst der Moshiach ben David geboren werden. Und ein chassidisches Sprichwort lautet: „Der Messias liebt den Müssiggang nicht.“

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