In jenen Jahren, so wissen wir, gelangt der Roman zu einer seither kaum mehr übertroffenen Meisterschaft, die Gegebenheiten des äußeren Lebens mit einer Genauigkeit abzubilden, die es uns ermöglicht, den Speiseplan einer Lübecker Kaufmannsfamilie ebenso nachzuvollziehen wie die genauen Umstände des Aufstiegs eines französischen Journalisten, die Urlaubsgewohnheiten einer Wiener Arztfamilie oder die Art und Weise, wie ein russischer Aristokrat Weihnachten feiert. Wir wissen, welche Vorbereitungen ein Ball in der britischen Provinz erfordert. Wir kennen aber auch nicht minder die Ängste eines Pragers Angestellten, die Inkonsequenzen einer Gesellschaft, die eine russische Dame am Ende unter die Eisenbahn bringen, und hören den Lügen dieser Epoche ebenso zu wie ihren Witzen, ihren Wahrheiten, ihren Traurigkeiten und ihrem Tod. Wir sind, mit einem Wort, mit dem alltäglichen Leben des Bürgers des 19. Jahrhunderts und des frühen 20. in hohem Maße vertraut.
••• Serviert Frau Modeste uns ein Roman-Quiz? (Können wir zusammentragen, auf welche Romane hier gezielt wurde?) Nein, Frau Modeste wagt sich vor in die Kritik des zeitgenössischen Prosa-Erzählens; und sie beklagt — den Mangel an realistischer Beschreibung des heutigen Alltags.
[…] spielt ein guter Teil der Gegenwartsliteratur in einer Welt, die es so nicht gibt. Die Einbettung in eine vollkommen künstliche oder schlicht nur angedeutete Umgebung enthebt den Autor der Notwendigkeit, eine realistische Darstellung der Welt zu liefern, wie sie aussieht, wie sie riecht und schmeckt, und wie diejenigen, die sich in ihr bewegen, denken, wie sie lieben, was sie ärgert, und wie sie sprechen. Das in der deutschen Kunstprosa der Gegenwart gesprochene Idiom ist vollkommen artifiziell.
Eine Welt, die es so nicht gibt? Wie glänzend Frau Modeste sich täuscht — nicht über die vemeintlich so nicht existierenden Welten in der nicht-naturalistischen, irgendwie-anders-realistischen Prosa, sondern darüber, dass die Schilderungen in all den Romanen, auf die sie oben anspielte, nichts zu tun haben mit irgendetwas wie Realität. Sie waren erfunden von ihren Autoren und ebenso glaubwürdig oder unglaubwürdig wie jede heutige Beschreibung von etwas in Form. Alle Autoren aller Zeiten haben schon immer vor allem eins: wahr-gelogen, dass sich die Balken bogen.
Am 23. Juli 2007 um 21:51 Uhr
Es scheint, als verlange die Frau Modeste, dass wir nachplappern, was uns als Alltag vorgegaukelt wird. Da beschreibe ich lieber die schöne, unheimliche Welt meines Nichttags, den es nämlich AUCH gibt. Und – was liest man lieber: Was man ohnehin schon kennt, oder das, was einem das (Ehr-)Fürchten lehrt: unsere Phantasie?
Am 23. Juli 2007 um 21:54 Uhr
Du hast einen Nichttag? Träumer!
Am 23. Juli 2007 um 23:00 Uhr
hahaha. allein dieser satz reicht nicht mal für die sonderschule. will uns da wer verarschen?… welt, die es so nicht gibt… das ist das lächerlichste, dass ich in den letzten jahren gehört habe.
Am 24. Juli 2007 um 04:45 Uhr
„Nichttag“ = z.B. „Nacht“
man kommt schon auf eine Lösung, die Sinn macht, wenn man sich denn ein bisserl anstrengt :-)
Am 24. Juli 2007 um 06:48 Uhr
Die Bildung von Frau Modeste solltest Du nicht unterschätzen!
Am 24. Juli 2007 um 07:12 Uhr
Ich unterschätze Frau Modeste doch nicht! Mein Kommentar zielte auf Deine liebevolle Etikettierung meiner Person als „Träumer“. Das bin ich AUCH, aber nicht nur. Ich sehe auch wachen Auges den Alltag gelegentlich als etwas anderes.
Zu Frau Modestes Klage jedoch noch einmal: Sie impliziert, es gäbe eine Welt, die „es so gibt“, und da widerspreche ich vehement. Diese Welt, die sie in der Literatur fordert, ist eine Welt der Konventionen, der Übereinkünfte, eine Welt, auf die man sich geeinigt hat. Nichts langweiliger als das und nichts wird der Welt ungerechter als das. Denn Konventionen ebnen ein, sie machen die Welt arm. In der Literatur geben wir ihr den Reichtum zurück (nein, das ist falsch: Sie besitzt ihn ja, wir decken ihn nur wieder auf. Ist ja nicht so schwierig, man muss nur genau hinsehen.).
Am 24. Juli 2007 um 07:39 Uhr
@Markus: Frau Modestes Bildung nicht zu unterschätzen — das ging an Herrn p.- Und im übrigen wollte ich Dich nur ein wenig teasen.
Das unterschreibe ich.
Am 24. Juli 2007 um 10:07 Uhr
Diese ganze Frage rund um Wirklichkeit ist so ernst, dass nur ein spielerischer Zugang ihr gerecht werden kann. Kinder wissen das. Deshalb ist der Spielplatz auch so wichtig in ihrem Leben.
Am 24. Juli 2007 um 11:54 Uhr
Das habe ich bei Madame noch als Kommentar hinterlassen.