Doch so einfach

6. August 2009

»Krötenwanderung« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger

1
Am 1. August, dem Schweizer Nationalfeiertag, fuhr ich mit meinen Eltern auf die Schwägalp. Mein Vater wollte das riesige weiße Kreuz auf rotem Tuch sehen, das zehn wagemutige Bergsteiger an der Flanke des Säntis angebracht hatten. Es war ein blauer Tag, der Berg majestätisch. So groß wie zwei Fußballfelder hing die Schweizer Marke da oben hoch am symbolträchtigen Felsen. Vier Tage ist es nun her und noch immer spricht mein Vater davon, wie ergriffen er war, als er diese gigantische Fahne sah. Vielleicht ist Heimat nichts anderes als das: ein Symbol, das für ein Stückchen Land steht, und dieses wiederum für bestimmte Eigenschaften. Im Falle der Schweiz mögen es Ordnung und Fortschritt sein. Zusammen ergeben sie jene Qualität, für die Schweizer Produkte weltberühmt sind. Gesetzliche Richtlinien bestimmen, wie viel Schweiz in einem Produkt stecken muss, damit es sich mit dem Schweizer Wappen zieren darf. Mein Vater tut keinen Schritt ohne Schweizer Taschenmesser im Hosensack.

2
Doch so einfach ist es nicht.

Anders als noch vor anderthalb Jahren fällt mir der Abschied von der Schweiz diesmal schwer. Nicht noch einmal will ich den Fehler machen, es mir zu leicht zu machen. Es ist einfach, sich ein schlechtes Bild von einem Land zu machen, und dann zu sagen: Es gefällt mir nicht. Ade.

3
Ein gutes Bild verlangt Sorgfalt. Von dem, der es macht. Von dem, der es betrachtet. Ihre üppig geschwungenen Kurven im makellos zubereiteten Schlafzimmer, dann die Dessous, luxuriös in ihrer schlichten Schönheit, die sie extra für diese Nacht gekauft hatte, und die Bereitwilligkeit, mit der sie sich ihrer entledigte. Das war das Augenfällige, das Gefällige. Das einfache Bild.

4
Das sorgfältige Bild: Die sehr deutlichen Anleitungen, mit denen sie meine Bewegungen und Berührungen lenkte. Dies darfst du, dies nicht. Lass das! Erst am Morgen danach, als ich nochmals nachhakte und fragte, erzählte sie mir, dass, was ich nicht durfte, ihr Vater mit ihr gemacht hatte. Mit Einzelheiten wollte sie nicht herausrücken, sagte nur, ihr Vater sei jetzt tot. Als ich fragte, wie er gestorben sei, meinte sie nur: Du sollst leben. Die Liebe ist heilig. Sie darf nicht beschmutzt werden. Von keiner Erinnerung, von keiner Berührung, von keinem Härchen auf den weißen Kacheln im Badezimmer.

5
Was, frage ich mich, wäre aus uns geworden, wenn sie mich nicht an der rechten Schulter berührt hätte?

6
In zehn Tagen werde ich wieder in Brasilien sein. Ich ertappe mich dabei, wie ich es mir wieder leicht machen will. Es ist einfach, sich ein schönes Bild von einem Land zu machen. Ich mahne mich zur Sorgfalt, auch hier: Es war die kräftige Ohrfeige einer Frau, von der ich mich soeben getrennt hatte, die mich 1990 aus Brasilien vertrieb.

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Beim Kofferpacken fiel mir eine brasilianische Flagge in die Hände, die ich kaufte, als ich Brasilien das erste Mal verließ. Sie löst in mir ähnliche Gefühle aus wie die Schweizer Fahne bei meinem Vater. Ich frage mich, was sie für mich symbolisiert, wofür sie steht: Grün gelb blau, und im blauen Rund steht der Sternenhimmel wie damals über Rio de Janeiro an jenem Tag, an dem die Republik gegründet wurde. Zweigeteilt wird dieser Himmel von einem weißen Band, auf dem »Ordem e Progresso« geschrieben steht, was auf Deutsch so viel heißt wie »Ordnung und Fortschritt«.

8
Doch so einfach ist das nicht.

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