Daß ich mitspiele, daß ich eure Regeln zu meinen machen soll, ist nur eine List von euch, mich weich zu kriegen, mich in falscher Sicherheit zu wiegen. Die wahren Regeln, wie man lebt und überlebt, die ich im Lager gelernt hatte, die Jankl mir beibrachte, die werdet ihr mich nicht vergessen machen.
Das gute Leben ist nur eine Falle. Das Lager ist noch da! Es ist nur versteckt und gut getarnt. Die Menschen haben ihre Uniformen ausgezogen und sich schön gekleidet, damit man sie nicht erkenne.
Aber höre genau hin, beobachte sie, wie sie ihre eigenen schönen Spielregeln mißachten. Deute ihnen nur leise einmal an, daß es sein könnte, daß du ein Jud‘ bist und du wirst spüren: Es sind noch immer die gleichen Menschen – und ich bin sicher: Sie können noch immer töten, auch ohne Uniform.
Ich habe als Junge oft Selbstgespräche geführt. Und nun sah ich diesen unbestechlichen Dokumentarfilm über die Befreiung von Mauthausen und anderer Lager.
Wie betäubt ging ich nach Hause, warf meine Schulmappe hin und ging in den Garten.
Wie ich es oft tat, wenn ich ganz alleine etwas überdenken wollte, kletterte ich hoch hinauf auf eine der schönen alten Tannen und setzte mich bequem auf einen selbstgebastelten Hochsitz.
Fast die ganze Stadt konnte ich von hier überblicken. Das sanfte Wiegen des Wipfels beruhigte. Da oben war ich sicher. Keiner würde mir folgen können. Ich konnte nachdenken.
Ich sah wieder die lachenden und erleichterten Gesichter der Befreiten aus dem Dokumentarfilm:
Gesetzt den Fall, der Film hat nicht gelogen, gesetzt den Fall, diese Gesichter haben nicht gelogen, wo war ich dann? Was hat man mir verheimlicht? Warum war ich nicht dabei? Ist da wirklich etwas geschehen, von dem ich nichts wußte?
Ich wurde immer unsicherer und ein schrecklicher Verdacht, gleich einem beißenden Schmerz, begann sich in mir emporzunagen. Er krallte sich in meinen Bauch, legte sich schwer auf meine Brust und kroch würgend in meinen Hals:
Vielleicht ist es wahr – ich habe meine eigene Befreiung verpaßt.
Binjamin Wilkomirski, aus: „Bruchstücke“
Aus einer Kindheit 1939-1948
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag (1995)
••• Kennengelernt habe ich Binjamin Wilkomirski auf der Leipziger Buchmesse 1996. Wir hatten eine gemeinsame Lesung. Unsere Bücher waren beide im Herbst zuvor erschienen. Ich kannte seines noch nicht und er nicht das meine. Vor der Veranstaltung hatten wir Gelegenheit, lange miteinander zu sprechen. Es war offensichtlich, wie weit dieser zerbrechliche Mann von einem seelischen Gleichgewicht entfernt war, dass er voller Ängste und Nöte steckte. Er war auch nicht in der Lage, selbst zu lesen, sondern liess vorlesen und verfolgte die Veranstaltung mit ängstlicher Unruhe und einer Unsicherheit, die in seiner Körpersprache nahezu unerträglich sichtbar wurde.
In unserem Gespräch war er weniger angespannt gewesen. Wir waren einander wohl eher sympathisch gewesen, denn nach der Veranstaltung lud er mich ein, ihn gelegentlich in der Schweiz zu besuchen. Ich traf ihn dann auch tatsächlich bald. „Amlikon, den 27. Mai 1996“ steht unter seiner Widmung in meinem Exemplar seiner „Bruchstücke“.
Ich erinnere mich noch gut. Mit dem Zug war ich aus Zürich gekommen, wo ich Freunde besuchte. Er holte mich mit dem Auto vom Bahnhof ab. Mir fiel sofort ein großer Holzkasten auf, der vorn im Auto befestigt und an den ein Mikrofon montiert war. Das sei ein Funkgerät, sagte er. Noch immer habe er wieder und wieder schlimme Angstzustände und müsse in Kontakt bleiben können mit seinem Therapeuten. Ich fand das eigenwillig. Ich hatte für dringende Kommunikationsbedürfnisse mein Mobiltelefon in der Tasche.
Sein Haus war angefüllt mit Recherchematerialien. Er berichtete mir ausführlich von seinem Engagement für Amcha, die Reisen an die erinnerten Orte seiner Kindheit, die Treffen mit anderen Kindern, die die Schrecken überlebt hatten.
Als ich zwei Jahre später von Daniel Ganzfrieds Enthüllungen las, beschäftigte mich nur eine Frage: Was wird er – Binjamin – nun durchmachen müssen? Was finden wir hier: eine angeeignete Biographie, sorglose Agenten und Verlage. Und einen Autor, der – davon bin ich nach wie vor überzeugt – fest an seine Version der Rekonstruktion seiner Kindheitsleiden glaubte. Sie war ganz offenbar seiner Seele die passendste Metapher für das, was ihm widerfahren war.
Der Suhrkamp-Verlag hat das Buch vom Markt genommen. Das ist ein Verlust. Ich habe in seinem Text vor allem die Schilderungen aus dem Kinderheim geschätzt, das Zurückkehren des Kindes in eine vermeintlich bessere Welt, an die es nicht glauben kann und das in seinem Unglauben auch bestätigt wird. Das Buch sollte verfügbar bleiben, freilich mit einem Nachwort versehen, das angemessen den Fall von Autor und Werk behandelt.
Glücklicherweise ist der Fall durch Stefan Mächler unvoreingenommen und penibel aufgearbeitet worden. In seiner Reportage „Der Fall Wilkomirski“ geht er allen Spuren nach und klärt, was irgend zu klären ist. So wird auch die Dimension des persönlichen Leidens des Autors der „Bruchstücke“ sichtbar.
Binjamin Wilkomirski – nur er und nicht Bruno Grosjean oder Dössekker ist mir bekannt – hat seine Befreiung tatsächlich verpaßt. Oder soll man sagen: verfehlt? Das ist für mich das Tragischste an diesem „Fall“. Seine Analyse, sein Forschen, sein Buch sollten ihn befreien. Stattdessen wurde er mit Häme, Spott und Verachtung übergossen. So sitzt er noch immer wie das Kind auf dem Hochsitz und schaut hinaus in eine feindliche Welt, die sein Leiden nicht wahrhaben will und einmal mehr nivelliert.
So ist ihm in nichts geholfen. Und ich hätte es ihm doch so sehr gewünscht.
Als mir im letzten Jahr durch einen glücklichen Zufall „Jossel Rakovers Wendung zu Gott“ in die Hände kam, fiel mir sofort Binjamins Buch ein und damit auch mein unfreundschaftliches Versäumnis: dass ich ihn nie angerufen habe, um ihm das alles zu sagen.
Am 8. Mai 2007 um 09:50 Uhr
Mir ist dieser Satz – nachdem ich das Vorangehende gelesen hatte – direkt in die Knochen gefahren. Das ist ein Wahnsinnsbild.
Am 8. Mai 2007 um 12:57 Uhr
das ist wirklich tragisch. ich habe das buch oft im wühltisch liegen sehen, aber seit mir ein buchhändler die geschichte des buches erzählt hatte, wollte ich es nicht mehr lesen. wenn ich deinen beitag lese bin ich mir nicht sicher, ob es ein fehler war das buch nicht zu kaufen.
Am 6. November 2007 um 22:54 Uhr
[…] die Idee schon seit einem Jahr. Doch heute – bei der Lektüre eines Essays über die Affäre Wilkomirski – kam mir plötzlich der entscheidende Einfall. Und alles bislang Angedachte fügt sich […]
Am 21. Februar 2008 um 09:59 Uhr
[…] in der Bar habe ich lange mit der Herzdame diskutiert, ob es gut war, meinem Impuls nachzugeben, B. W. zu kontaktieren. Auch ob und wann ich Kontakt aufnehmen sollte mit anderen Personen, die eine Rolle gespielt haben […]
Am 12. Februar 2010 um 13:46 Uhr
Eine sehr verzwickte Angelegenheit.
Am 28. November 2010 um 22:47 Uhr
[…] to prefer to lie about a childhood in Auschwitz rather than accept what really happened to him. Benjamin Stein addresses that on his website too. On the back of Wilkomirski’s book the words are to be found „Es ist der Ort, wo die Welt […]