Zu jener Zeit streunten die Wölfe noch in eisigen Winternächten durchs Land und kamen auf Nahrungssuche bis in die Dörfer, wo sie Geflügel, Ziegen und Schafe ebenso rissen wie Esel, Kühe und Schweine. In Ermangelung von Besserem schlangen sie manchmal sogar Hunde und Katzen hinunter, doch sobald die Gelegenheit sich bot, labten sie sich begierig an Menschenfleisch. Sie schienen übrigens eine ganz besondere Vorliebe für Kinder und Frauen zu haben, deren zarteres Fleisch ihrem Hunger zu gefallen wusste. Und ihr Hunger war wirklich ungeheuerlich, er wetteiferte mit der Kälte, dem Elend oder dem Krieg, dessen letzter Widerhall und dreistester Ausdruck er zu dieser Zeit zu sein schien.
••• Im Urlaub habe ich einen der besten Romane gelesen, der mir je untergekommen ist: „Das Buch der Nächte“ der Französin Sylvie Germain. Auf 300 Seiten erzählt Sylvie Germain die europäische Version von „Hundert Jahre Einsamkeit“. Es ist die Geschichte von 100 barbarischen Jahren (1850-1950), die Geschichte dreier grosser Kriege, die Geschichte von fünf Generationen der Familie Peniél, denen je ein Kapitel dieses Romans gewidmet ist. Germain nennt die Kapitel Nächte (Wasser, Erde, Rosen, Blut, Asche). Und diese Nächte sind Sinnbild der Einsamkeit und Isolation der Peniéls in einer fremden, feindseligen Welt, ausgesetzt in einem ganz unausweichlich sich entfaltenden Plot grausamer Zerstörung.
Die Grundkoordinaten jeder Geschichte in diesem Kaleidoskop sind Geburt, Hochzeit und Tod sowie Abweichungen von einer vermuteten Norm. Der „Freak“-Faktor ist hoch in diesem Buch; das Abnorme, die Fratze, die entstellende Narbe, ein Tic oder auch Male (auf der Haut oder in den Augen) sind das Normale. Nahezu keine Figur ist nicht mit einer spezifischen Besonderheit geschlagen, die sie charakterisiert und das Symbol ihrer Rolle in diesem Generationenplot darstellt. Das ist mitunter anstrengend, denn nicht immer gelingt es Germain, dass man in den Besonderheiten eine Zwangsläufigkeit nachvollziehen kann. Wenn aber die Zwangsläufigkeit offenbar wird, dann geht das Konzept mit atemberaubender Grandiosität auf.
Sylvie Germain erzählt linear. Ihre Methode des Erzählens wie auch das Sujet rücken sie in unmittelbare Nachbarschaft von Gabriel Garcia Márquez. Die Nachbarschaft ist so auffällig, dass man sie für eine Epigonin halten könnte. Doch Germain fügt dem Márquez’schen Zaubertrank zwei Zutaten hinzu, die ihrerseits diesen Roman zu etwas ganz Eigenem, Besonderen machen: europäische Schwermut und eine ungeheuer poetische Sprache, sparsam und dabei doch so ungemein intensiv, dass es schwer fällt, ohne Pausen zu lesen.
Dieses Buch habe ich anlässlich meiner ersten Lesung aus dem „Alphabet des Juda Liva“ in einer Heidelberger Buchhandlung geschenkt bekommen. Damals las ich kurz hinein. Ich spürte sofort, dass dies ein besonderes Buch ist, für das ich mir Zeit nehmen müsste. So stand es seit 1995 ungelesen in meinem Regal. Als hätte es in diesen zwölf Jahren keine zwei freien Tage gegeben, um diesen Schatz in Ruhe zu heben…
Zu jener Zeit streunten die Wölfe noch in eisigen Winternächten durchs Land und kamen auf Nahrungssuche bis in die Dörfer, wo sie Geflügel, Ziegen und Schafe ebenso rissen wie Esel, Kühe und Schweine. In Ermangelung von Besserem schlangen sie manchmal sogar Hunde und Katzen hinunter, doch sobald die Gelegenheit sich bot, labten sie sich begierig an Menschenfleisch. Sie schienen übrigens eine ganz besondere Vorliebe für Kinder und Frauen zu haben, deren zarteres Fleisch ihrem Hunger zu gefallen wusste. Und ihr Hunger war wirklich ungeheuerlich, er wetteiferte mit der Kälte, dem Elend oder dem Krieg, dessen letzter Widerhall und dreistester Ausdruck er zu dieser Zeit zu sein schien.
Und so lebten manche Landbewohner in der immer wieder aufflammenden Furcht vor diesem unersättlichen Hunger. Sie bezeichneten den Wolf mit einem einzigen Namen, der gleichermaßen Ausdruck für ihre Angst wie für ihren Todfeind war – sie nannten ihn nur „die Bestie“.
Diese Bestie mit dem vielgestaltigen Körper , hieß es, sei Teufelswerk und auf die Erde gesandt, die Armen heimzusuchen. Manche Leute behaupteten gar, sie sei nichts anderes als die rachsüchtige Seele eines Menschen, der zu den Qualen ewiger Verdammnis verurteilt worden sei, weil er es gewagt habe, der Weltenordnung zu trotzen, vielleicht aber auch die Gestalt, in die irgendein Unheil bringender, blutrünstiger Zauberer sich verwandelt habe. Andere gingen so weit, in ihr sogar den Finger Gottes zu erblicken, der aus Zorn über die Menschen deren Ungehorsam und deren Sünden schon im Diesseits strafte. Wenn daher die Bauern zur Hetzjagd aufbrachen, um Die Bestie aufzuspüren, luden sie ihre Gewehre, die auf den Stufen der Kirche gesegnet wurden, mit Kugeln, die aus dem Metall von Bildnissen der Jungfrau und der Heiligen gegossen waren.
Aber Die Bestie wusste sich außerhalb der Sicht und Reichweite der Jäger zu halten. Sie lagerte im dichtesten Halbdunkel der Wälder, die mitunter von kehligem Heulen widerhallten, und zeigte sich nur den Auserkorenen ihres Hungers.
Mitunter wurde eines ihrer Opfer noch lebend gefunden, aber durch die geringste Bisswunde, die Die Bestie einem Menschen beibrachte, schien dieser dem Tode geweiht. Man konnte die Verletzten noch so pflegen, ihre Wunden mit essiggetränkten Knoblauchzehen abreiben, bis sie wieder bluteten, oder auch Packungen aus gestoßenen Zwiebeln, die mit Honig, Salz und Urin vermengt waren, auflegen und ihre Körper mit Amuletten bedecken, sie starben dennoch über kurz oder lang unter grauenhaften Schmerzen.
Je näher der Tod kam, desto mehr schienen die Opfer der Bestie sich selbst in Wölfe zu verwandeln, so maßlos wurde dann die in ihnen wohnende Gewalt; sie entflammte in ihren Augen das gleiche Lodern wie in den schrägstehenden Augen der Bestie und verformte ihre Nägel und ihre Zähne zu immer angriffsbereiten Klauen und Reißzähnen. Und so kam es des öfteren vor, daß die Anverwandten des Rasenden dieser furchtbaren Verwandlung ein Ende machten und den armen Sterbenden, der vor Tollheit schäumte, zwischen zwei Matratzen erstickten. Danach legten sie ihn artig in sein Bett zurück, damit seine Seele nicht durch die von der Bestie beherrschten Wälder streunte und später wieder zurückkäme, um mit dumpfen Klagen um ihr Haus zu schleichen.
Um solche Wiederkehr abzuwenden und vor allem, um Die Bestie von ihren Höfen fernzuhalten, war es üblich, daß die Bauern, wenn es ihnen endliche gelungen war, einen Wolf zu töten. Die Pfoten und den Kopf oder Schwanz des Kadavers an ihre Scheunentore nagelten. Denn man mußte verhindern, daß Die Bestie, und sei es nur von weitem, sich den Lebenden näherte. Es hieß nämlich, allein ihr Blick genüge, die Menschen stumm und lahm zu machen, und besonders ihr übelriechender Atem könne denjenigen, den er berührte, vergiften. Man behauptete übrigens von den Zigeunern, jenen Menschen, die selbst den Wölfen so sehr ähnelten und die mitunter ihre Lager vor den Dörfern aufschlugen, sie rauchten in ihren Pfeifen einen Tabak, dem sie am Feuer gedörrte Wolfsleber beigemengt hätten, um mit dem widerwärtigen Gestank die Wachhunde der Herden zu schrecken.
Sylvie Germain, aus: „Das Buch der Nächte“
Übersetzung von: Eva Bauer
© Rütten & Loening Berlin 2001