Als wir begannen, schamlos zu betrachten
des andren Lippen, Augen, Hand und Haar
vergaßen wir sehr bald, darauf zu achten
was vorher uns die größte Angst noch war:
daß ohne Müh der andre uns erkennte.
Ich war darauf nicht sonderlich erpicht
daß mit dem ersten Wort uns nicht mehr trennte
Verschwiegenes, das meint: den kennst du nicht.
Sagt ich: Zur Offenheit gehört auch Mut
da riefst du: Feigling! Hast mich so genannt
und ich war stumm und Traurigkeit wohl da.
Doch wurd ich froh am Ende, als ich sah:
Wir hatten uns – trotz allem – doch erkannt.
Und wußt es: So – und nur so – war es gut.
© Benjamin Stein (1989)
Am 28. Juni 2007 um 02:32 Uhr
Obwohl mir dieses Getischt außerordentlich gefällt, weil ungemein viel Herzblut darin steckt und aus jeder Zeile eine zarte Verliebtheit spricht, bin ich dennoch persönlich kein besonderer Freund dieser strengen Tischkunst; allerdings verfügst Du über eine sehr eigene & spezifische Sprache, die mich sehr reizt und welche einen gewissen Wiedererkennungswert besitzt. Schreiben können schließlich viele, doch wiedererkennen werden sie nur die Wenigsten! – Echte Sprachkünstler sind inzwischen rar geworden in dieser schroffen Welt, doch Dir gehört ein Ehrenplatz in dieser Loge der offensichtlich aussterbenden Rasse!!!
Am 28. Juni 2007 um 12:21 Uhr
Für die Blumen herzlichen Dank. – Nun ist allerdings dieses Gedicht schon ziemlich alt. Die wenigen Gedichte, die ich heute schreibe, gehen ganz andere Wege. Dieses Sonett hier hat auch nur durch Gutmütigkeit überlebt, denn es scheint mir selbst so ungeheuer Brecht-epigonal, dass ich es eigentlich niemals vorzeigen wollte.
Gebracht habe ich es, weil es eine weitere Variation der Sonettenform zeigt, die wir hier noch nicht hatten.
Und weil mir für heute nach einem Liebesgedicht zumute war.
Am 28. Juni 2007 um 20:46 Uhr
Ich hoffe, Benjamin, von den beiden Gründen, die du für das Hinschreiben deines Gedichtes anführst, überwiegt der Zweite. Und zwar um Längen. Oder spießt du Gedichte auf wie Insekten, um ihre Gattungen komplett zu katalogisieren?
Am 28. Juni 2007 um 22:28 Uhr
Das wär doch mal was: das Gedicht in der Schmetterlingssammlung. – Aber im Ernst: Ich finde es spannend, wie eine so strenge Form wie das Sonett so unglaublich viele Gestalten annehmen kann.
Am 28. Juni 2007 um 22:35 Uhr
Und – warum findest du das spannend? Keine Kritik, ich möchte das wirklich wissen, es geht mir oft ähnlich!
Am 28. Juni 2007 um 22:55 Uhr
Vielleicht weil es ein Beweis dafür ist, dass Beschränkung nicht gleich ein Gefängnis ist.
Am 29. Juni 2007 um 09:28 Uhr
Ja, das kann ich verstehen.
Für mich ist es oft so, daß (zunächst) Form-loses mir nur eingeht und gefällt, wenn ich um die Form wissen kann, die es los-geworden ist. Also ein Zu-Hause in der Ferne zu finden ist. Das die Ferne dann erst zur Ferne macht. Und das zu finden einen gut Teil der Freude ausmacht.
Am 1. Juli 2007 um 00:04 Uhr
[…] Das könnte der heutige Gegenentwurf sein zum Gedicht vom Donnerstag: in der Form wie im Inhalt. Ob es auch epigonal ist, müssen andere […]