„Ich singe weil ich ein Lied hab“, sang Konstantin Wecker vor langer Zeit aus voller Brust an der vollen Brust von Mercedes Sosa. Peter Pan konnte fliegen, weil er einen schönen Gedanken hatte. Der Gedanke trug den Namen seiner Liebsten. Auch heute wird gesungen und geflogen. Höher denn je. Aber nicht, weil man ein Lied hat, sondern weil man singen kann. Und der schöne Gedanke gilt nicht der Geliebten, sondern schlicht der Fähigkeit, einen schönen Gedanken zu haben […]
Sven K. in daily ivy
••• Was ich gestern bei Sven K. in „daily ivy“ las, korrespondiert – kurz und prägnant gefasst – mit meinem Empfinden bei der Urlaubslektüre. Was hatte ich dabei? Eine berühmte (aber unerfreuliche) französische Prosa. Eine auch berühmte, grandiose französische Prosa (von der ich in Kürze ausführlich berichten werde), ein Sachbuch (Richard Dawkin: „The Blind Watchmaker“ [Why the evidence of evolution reveals a universe without design]) und – die Sonderausgabe der Literaturzeitschrift „BELLA triste“ zur deutschsprachigen Gegenwartslyrik.
In dieser sehr liebevoll gestalteten Sonderausgabe werden 28 jüngere Gegenwartslyriker vorgestellt, also etwa Ulrike A. Sandig, Ron Winkler und Nico Bleutge statt Durs Grünbein oder – er wird das hoffentlich nicht persönlich nehmen – Alban Nikolai Herbst. Ausgewählten Gedichten sind Essays anderer Autoren zum jeweiligen Autor beigegeben. Jehr mehr ich las, desto lustloser wurde ich und ratloser. Und mir war auch sehr schnell klar, woher dieses Missbehagen, das allerdings gelegentlich auch ganz verflog, kam: Technisch und artistisch geht es zu in dieser jungen deutschen Gegenwartslyrik. „Experimentell“ oder „besonders genau“ geht es zu. Das Wie beherrscht das Was.
In der Lyrik suche ich nach Texten, die eine Explosion oder doch zumindest einen ganz deutlich spürbaren Resonanzklang in mir auslösen, die etwas ganz Elementares auf eine Weise ausdrücken, die so treffend ist, dass sie einem wie die einzig mögliche Weise des Ausdrucks erscheint. Allzu oft hatte ich bei der Lektüre das Gefühl, dass es einzig darum geht, überhaupt zu schreiben und artistisch wertvoll zu schreiben. Bei ganz wenigen Texten wurde ich wirklich angerührt und hatte den Eindruck, dass geschrieben wurde, weil es Autor oder Autorin dazu drängte, etwas und etwas ganz Bestimmtes zu sagen.
Täusche ich mich, wenn ich annehme, dass kaum einer dieser jungen Lyriker wirklich ein Lied hat und dass sie dennoch spielen – nur weil sie es eben können wollten, nun können und es uns allen zeigen? So viele leere Dosen unter diesen Texten, kam es mir immer wieder in den Sinn, die blechern scheppern, wenn man mit dem Finger daran schnippt.
Aber vielleicht habe ich auch nur eine allzu antiquierte und begrenzte Auffassung von Dichtung…
Am 22. Juni 2007 um 00:59 Uhr
Ron Winkler? aber selbstverständlich, mein Herr! Kein Grünbein? aber selbstverständlich, mein Herr!
Am 22. Juni 2007 um 01:28 Uhr
Ja, natürlich ist das selbstverständlich. Das waren Beispiele für die jüngeren Lyriker! Die im Gegenzug Genannten sind nicht mehr so jung wie Herr Winkler. Und Frau Sandigs Texte sind sicher keine leeren Dosen.
Was wolltest Du mir noch sagen?
Am 22. Juni 2007 um 07:57 Uhr
Schwer, nicht wahr? Allzuviel kann man nicht sagen, weil es immer das gleiche sein wird. Anders aber als prosa kann man in doitschland gedichte schreiben und ich glaube, sie ist ausnahmsweise mal nicht schlechter als in den literaturnationen (ich weiss, ich müsste „… als in anderen literaturnationen“ schreiben, wie aber jeder weiß, zähle ich das entwicklungsland BRD nicht dazu).
Am 22. Juni 2007 um 09:04 Uhr
So leicht lasse ich Dich da jetzt nicht los. Warum kann man nicht „allzuviel … sagen, weil es immer das gleiche sein wird“? Ist die artistische Form der Wesenskern der Dichtung? Oder sind die speziellen Formen „lediglich“ das besonders taugliche Transportmedium für etwas, das anders nicht oder nicht in gleicher Intensität den Empfänger erreichen würde?
Ich neige letzterer Auffassung zu. Für erstere fehlen mir Argumente. Dir fallen als vermutetem Befürworter ersterer These doch aber sicher einige ein. Wir haben uns bislang wohl über die Konsequenzen ausgetauscht, aber nicht über die Motivationen.
Diese Motivationen interessieren mich allerdings; denn ich sehe hier einen grossen Unterschied zwischen Literatur und bspw. bildenden Künsten.
Und wenn Du die Vokabel „Entwicklungsland“ verwendest, fällt mir spontan auf, dass ich in Varianten des Artifiziellen in der Lyrik solange tatsächlich nur eine Entwicklungsstufe sehen kann, wie es sich selbst genügt, also „leere Dose“ ist, die zwar klingen mag, aber nichts bewegt – sowohl im Sinne des Transportierens als auch des Anrührens.
Am 22. Juni 2007 um 09:22 Uhr
Schwer ist es, wohlgemerkt, für mich – denn ich könnte ja nur von meiner eigenen Ästhetik sprechen, die grundsätzlich anders zu werten ist. Da sprichst du den artistischen Moment an und hast nicht unrecht, es ist ein Vorstoßen der sprache, kein Verharren, was es aber auch sein kann. Was die Inhaltslosigkeit betrifft, kann ich nicht mitreden, wenn es um andere geht, da ich selbst teilweise eine drückende Inhaltsüberlastung biete, die ohne Kenntnisse der Materie dann noch schwieriger zu verstehen sein wird. Ich kenne die Ästhetik der jungen Lyriker nicht, und ich hänge mich da auch nicht an, dass sprache bei mir den virtuosen Charakter erfüllen muss. Das hat sicher etwas mit dem bereits eingeplanten Vortrag zu tun. Abstraktes mag ich an sich in der Dichtung überhaupt nicht, und Konkretes gibt es nicht. Wie also bezeichnen wollen? Alles Absolute hat in der Dichtung nichts verloren (soweit es mich betrifft). Man kann über eine Phrase ein Wortkonglomerat legen, das die Geschwindigkeit variiert oder einen verschwindenden punkt länger betrachtet, als es gewöhnlich erscheint. Dem Leser die allerhöchste Konzentration abfordern – dann werden Inhalte nicht nur wie Nachrichten transportiert, sondern auch durch Laute eingefangen. Gedichte muss man IMMER vortragen. Etwas anderes ist nicht möglich, bzw. die Nähe zum Lied besteht darin, dass man es hören muss. Natürlich kann man auch einfach die Partitur zur Hand nehmen…
Prima, jetzt habe ich eigentlich überhaupt nichts gesagt, weil du aber von „bewegen“ sprichst. Was muss Lyrik bewegen außer die Wahrnehmung? Sprache in all ihren Formen ist in erster Linie Magie in ihrer Reinform. Deshalb ist z. B. das Beamtengequake keine Sprache. Die Sprache ist nicht dazu da, zu kommunizieren, sie ist nicht da, um damit zu rechnen, sie ist und bleibt ein Instrument zur Wahrnehmung, sie ist ein SINN.
Am 22. Juni 2007 um 09:52 Uhr
Um einen Gedanken von p. aufzugreifen:
Ich teile diese Auffassung ganz entschieden. Es wird immer wieder behauptet, wir Menschen würden vor allem über das Sehen gesteuert, wir seien Bildwesen. Das ist m.E. kompletter Unsinn. Es ist das, was wir sagen, hören, lesen, was unser Sehen bestimmt. Daher ist es nichts als konsequent, wenn p. Sprache als Magie bezeichnet, denn erst durch die Sprache wird erschaffen, was wir sehen. Siehe dazu auch diesen Beitrag auf Hanging Lydia.
Am 22. Juni 2007 um 10:52 Uhr
Also Sprache als Instrument unserer Intepretation des „bloss“ Gesehenen oder Gehörten…
[Wie empfindest Du heute? – Öhhm, englisch?!]
Darüber läse ich gern in einem Essay. Gibt es keine Grenzen mehr zwischen Philosophie und Literatur?
Am 22. Juni 2007 um 11:04 Uhr
Hat es – wenn überhaupt – nur in akademischen Kreisen gegeben.
(Und ja, manchmal empfinde ich brasilianisch, manchmal schweizerisch. Und Du wirst nicht glauben, wie sich die Welt dadurch anders präsentiert.)
Und noch was: Sprache ist nicht nur Instrument unserer Interpretation des Gesehenen. Sie bestimmt ganz wesentlich mit, was wir sehen, was wir übersehen.
Du willst einen Essay? Lässt sich machen.
Am 22. Juni 2007 um 12:05 Uhr
Ich werde Dich ggf. daran erinnern *g
Am 22. Juni 2007 um 12:55 Uhr
Ach bitte lösch meinen Account oder wie das heißt.
Am 22. Juni 2007 um 16:33 Uhr
Es stimmt überhaupt nicht, dass die Grenzen zwischen Philosophie und Literatur nur akademisch sind. Dass sie sich mit der Zeit verschieben, aber dass es sie nicht gibt, ist zwar eine pointierte Formulierung, aber leicht zu widerlegen. Zum Beispiel: Heidegger ist vielleicht ein guter Philosoph (darüber lässt sich streiten), aber ich habe noch nie gehört, dass irgendjemand behauptete, dass seine Gedichte gute Gedichte sind. Als Lyriker war er wirklich nicht erfolgreich.
Am 22. Juni 2007 um 20:35 Uhr
Was ich sagen wollte, ist, dass es unmöglich ist, die Philosophie aus der Literatur herauszuhalten. Literatur spiegelt immer eine Weltanschauung wider. Literatur ist immer Philosophie, manchmal – das gebe ich zu – schlechte Philosophie. Dass dasselbe fürs Umgekehrte nicht gilt – da stimme ich Ihnen zu.
Am 22. Juni 2007 um 21:03 Uhr
Nun, gegen Heidegger könnte man jetzt wiederum Nietzsche ins feld führen. Wir erinnern uns, dass er nicht nur der wortgewaltigste aller philosophen war, sondern dass der herr uns Dithyramben entgegenschleuderte, die nun nicht weniger als zu seiner genialität beitrugen. Dabei will ich gar nicht einmal auf die terminologie und das wesen seiner philosophie eingehen.
Erinnern wir uns ferner (ich nehme hier absichtlich nur allseits bekannte namen), dass sowohl ein Goethe wie auch ein Schiller wiederum philosophierten.
Dasselbe gilt fast für alle autoren, denen ich irgendeinen wert beimesse, und das sind weit über hundertfuffzig stück, was mich in persona allein betrifft.
Wenn philosophie das staunen ist, wird der dichter immer auch philosoph sein, denn das sehen ist beiden gemeinsam und nur aus dem sehen erwächst der wert des staunens, nicht aber aus dem denken, wie es die meisten philosophen eben so ausschließlich praktizieren.
Am 22. Juni 2007 um 22:08 Uhr
Also, ich bin kein grosser Fan von Heidegger (obwohl ich seinen Briefwechsel mit Arendt ins Englisch übersetzt habe), aber ich mag Nietzsche sehr. Trotzdem kann ich die Dithyramben, trotz ihrer Energie, nicht als Gedichte schätzen.
Und natürlich stimmt es, dass Goethe und Schiller philosophierten, aber da habe ich zwei Einwände: 1) Ihre philosophischen Arbeiten sind als Philosophie Mittelmass. Man liesst vielleicht die ästhetischen Briefe von Schiller, aber meistens, um wieder an Kant zu gelingen, den man sonst schwer versteht. Und welchen philosophischen Text von Goethe lesen Philosophen selber? 2) Beide Autoren haben selber Grenzen zwischen ihrer literarischen und philosophischen Arbeit gesehen.
Dass man Literatur „philosophisch“ lesen kann, ist klar. Das heisst aber nicht, dass die Grenzen zwischen L und P nicht existieren. Und wie ich zuerst sagte: diese Grenzen verschieben sich mit der Zeit, aber es gibt sie trotzdem, von Platon bis heute.
Am 23. Juni 2007 um 06:15 Uhr
Ich bin noch nicht ganz überzeugt. Wo ziehen Sie die Grenzen zwischen dem Einen und dem Anderen, zwischen L und P? Es gibt grossartige philosophische Texte, die ich ganz klar AUCH der Literatur zuschlagen würde. Andererseits gibt es literarische Texte, in denen ein ganzes Weltbild dargelegt und erklärt wird. Es gibt von Kleist einen Vierzeiler (ich finde ihn leider nicht mehr), in dem sein gesamtes „Marionettentheater“ verdichtet enthalten ist. Grossartig.
Wenn Sie als Kriterium die Qualität eines Textes anführen, um ihm entweder das Philosophische oder Literarische abzusprechen, dann finde ich das heikel. Damit kann ich wenig anfangen.
Wenn Sie mir eine schlüssige Definition von Literatur und Philosophie bieten (ich kann es nicht), kommen wir vielleicht weiter.
Am 23. Juni 2007 um 15:05 Uhr
Aber gerade Platon lässt doch erkennen, wie großartig er (vornehmlich in seinem Symposion, aber auch in der Apologie des Sokrates) stimmung erzeugen kann – das halte ich nun für ein literarisches moment, das ich auch bei Heraklit und Epikur wiederfinde). Bedenken wir, dass er in seiner „dichtungsphilosophie“ einen Sokrates sozusagen als figur erschaffen musste und primär im vordergrund stand, diese lebendig werden zu lassen, BEVOR er ihm die „philosophie“ in den mund legte.
Ein paradebeispiel haben wir dann in Sartre vor uns, der den nobelpreis nicht wegen seiner philosophischen werke bekam, sondern aufgrund seiner romane und erzählungen, die diese widerspiegeln.
In der literarischen Moderne fingen dann sehr wohl die sprachphilosophien an, konkret zu werden, die in der postmoderne bis heute anhaltende diskurse bereits im text selbst anlegen (John Barth, Donald Berthelme, Roland Barthes, Paul de Man, Umberto Eco…). Diese liste ließe sich beliebig fortsetzen und wenn ich mich nun selbst mit dazunehme, kann ein philosophisches gedankenmuster, wie ich oft aufzeige, unmöglich von der literarischen tätigkeit getrennt werden. Ich neige aber zu der einsicht, dass es sich um zwei disziplinen handelt, die man in etwas derart getrennt betrachten kann wie lyrik und prosa. Die intentionen von literatur und philosophie sind nicht so sehr verschieden wie es ihren materialien zufolge aussehen mag.
Am 23. Juni 2007 um 15:15 Uhr
Kurzer Nachtrag zu Heraklit. Dessen einfluss auf die literaten ist allerdings gewaltig, da möchte ich nur mal auf Cortazárs Rayuela verweisen und das anfangskapitel „Das Drehen der Schraube“.
Man nehme Robbe-Grillets „por un nouveau roman“ oder „le voyageur“ heran undsoweiterundsoweiter. Literatur heute ist immer auch reflexion dessen was man tut.
Am 23. Juni 2007 um 22:00 Uhr
Ich schrieb eine ganze Menge und habe es alles jetzt weggemacht. Ich brauche nur ein Beispiel: J. M. Coetzees „Elizabeth Costello.“
Wenn JMC einen Aufsatz schreibt, spricht er in seiner eigenen Stimme und bietet Argumente an, mit dener wir uns auseinandersetzen können. Wir widerlegen seine Argumente, oder wir nicken dazu, oder wir führen sie weiter, oder wir lesen (zum ersten Mal oder wieder) den Text oder die Texte, die er bespricht.
Wenn JMC EC zum Vortrag schickt, und sie bespricht „What Is It Like To Be a Bat?,“ dann bespricht sie einen philosophischen Text, und es kann sein, dass sie Philosophie schreibt. Aber es ist überhaupt nicht so, dass JMC in dem Text Philosophie schreibt. Er lässt eine literarische Figur Philosophie schreiben. Sich mit diesen Ideen auseinanderzusetzen, als ob JMC hier einfach einen Aufsatz schreibt, ist ein grundsätzlicher Fehler.
Umgekehrt fällt mir folgendes ein: John Searles „Chinese Room“ argument. Wer Searles Gedankenversuch literarisch liest, macht auch einen grundsätzlichen Fehler: Searle schreibt einen philosophischen Aufsatz, und keinen Roman.
Am 29. November 2007 um 13:20 Uhr
[…] Die jüngste Ausgabe von BELLA Triste, über deren Sonderausgabe zur deutschen Gegenwartslyrik ich hier vor einigen Monaten geschrieben habe, wartet erneut mit einem Dossier zur Lyrik-Debatte […]