Ich habe phantastische Bücher in mieserabler, nordamerikanischer Taschenbuchqualität gelesen und ich habe die Lektüre genossen. Ich habe – andererseits – mich von wunderschön gebundenen Hanser-Ausgaben zum Kauf verführen lassen und war enttäuscht. Was ist mir lieber?
Markus A. Hediger in den Kommentaren zu „Postberge“
••• Ich möchte, lieber Markus, ja beides zusammen! Weil ich mit Büchern lebe. Wenn ich die Lektüre genossen habe, soll das Buch bei mir bleiben. Getreu dem Motto: Ein Buch, das nicht wert ist, mehrfach gelesen zu werden, ist es auch nicht wert, ein Mal gelesen zu werden.
Meine Frau hat mir vor längerer Zeit eine bibliophile englische Ausgabe der Shakespeare-Sonette aus dem 19. Jahrhundert geschenkt. Man darf das Buch gar nicht aufschlagen, weil das Papier bei der sachtesten Berührung zu zerfallen beginnt. Auch die Bindung löst sich auf mit jedem Blick, den man nur auf dieses Buch wirft. Das macht mich unendlich traurig. Ich werde es behalten, bis es zu Staub zerfällt. Aber ich kann es nicht mehr lesen! Nun ist das bei den Shakespeare-Sonetten zum Glück kein Problem, sie sind 1000fach gedruckt in verschiedensten Ausgaben. Wenn man eine verschleisst, kann man zwei neue kaufen.
Die meisten Bücher aber, aus denen ich hier auf dem Turmsegler zitiere und die mich und mein Verständnis von guter Literatur geprägt haben, sind alt. Viele habe ich in Antiquariaten gekauft; und sie waren schon mehrfach gelesen, als sie mir in die Hände kamen. Und auch ich habe mehrfach Seite um Seite in diesen Büchern gelesen und gewendet. Aber sie sind noch bei mir. Ich kann sie immer noch aus dem Regal nehmen und wieder lesen.
In unserer alten Wohnung war einfach nicht genügend Platz, um alle Bücher frei zugänglich im Regal zu haben. Viele von ihnen fristeten traurige Jahre in Kisten verpackt im glücklicherweise trockenen Keller meiner Schwiegermutter. Wie oft habe ich geflucht, wenn ich mich an ein Buch erinnerte, es aufschlagen, darin lesen wollte; aber es war in der ausgepackten Auswahl nicht zu finden! Bei meinem Umzug in die neue grosse Wohnung ist mir, als ich nun endlich alle Bücher wieder auspacken und einsortieren konnte, eines ganz bitter bewusst geworden: Die meisten Bücher, von denen ich mir eingebildet hatte, sie besessen zu haben, waren in Wirklichkeit nie in meinem Besitz. Ich hatte sie geliehen, von Freunden und aus Bibliotheken. Ich hatte sie schon lange nicht mehr bei mir, nur noch in meinem Kopf, in dem Erinnerung alles umschreibt, entstellt bis zur Unkenntlichkeit.
Es ist ein wunderbarer Nebeneffekt meines Schreibens für den Turmsegler, dass mir alle diese geliebten Bücher, die ich nie besessen habe, wieder einfallen. Viele kann ich heute via Amazon gebraucht kaufen. Doch insbesondere bei Übersetzungen und Nachdichtungen habe ich schon manche grobe Enttäuschung erlebt: Die zumeist sehr guten DDR-Ausgaben – häufig Lizenzdrucke der besten westdeutschen Ausgaben – sind nicht mehr erhältlich. Stattdessen bekomme ich – beispielsweise von Cesare Pavese – so enttäuschend schlechte Nachdichtungen, dass ich das Buch sofort wieder verkaufen möchte.
Am schlimmsten aber sind die Bücher, die einfach vergriffen sind, nicht mehr zu bekommen.
Ich schreibe heute über Bücher, die ich in den letzten 25 Jahren gelesen habe. Noch meine Kinder werden in 15 bis 20 Jahren diese Bücher von mir ausleihen und lesen können (wenn sie denn wollen werden, was ich inständig hoffe). Nein, ich bin kein Freund von disposiblen Ausgaben, die einem schon beim ersten Lesen unter den begierigen Leserblicken zerfallen.
Wenn ich eines der Bücher meiner Kinder auf dem Boden herumliegen sehe, ziehe ich es ein (für eine Zeit); das ist die Abmachung, die wir getroffen haben, damit sie lernen, Respekt vor den Büchern zu haben. Jedesmal, wenn ich ein Buch vom Boden aufhebe und es im Büro ganz oben im Regal verstaue, gibt es Tränen. Auch sie vermissen ihre Bücher, in denen es im Moment noch um Pippi und Bob den Baumeister geht…
Da sehe ich einen gewaltigen Unterschied zwischen Literatur und Artikeln für Zeitungen und Zeitschriften, von denen ich hunderte geschrieben habe, keinen einzigen mehr gedruckt besitze und die mir nicht fehlen. Bücher gehören zu meiner erweiterten Familie. Ich möchte nicht, dass diese Wesen nackt im Schnee herumspringen und sich eine Lungenentzündung holen, an der sie zugrunde gehen, bevor sie ins liebesfähige Alter kommen können.
Sie sollen am Leben und umarmbar bleiben.
Am 21. Juni 2007 um 09:18 Uhr
Um meine Aussage im Kommentar zu „Postberge“ nochmals auf den Punkt zu bringen:
Mir ist ein Buch, ein Heft, ein Flugblatt – egal, wie schlecht gedruckt, das mir aber ein Bild, einen Gedanken vermittelt, das/der mich über Jahre beschäftigen wird – tausendmal lieber als, sagen wir, zum Beispiel Ecos „Insel des vorigen Tages“ in der ersten, gebundenen Ausgabe, das keinerlei Nachwirkungen in mir hatte (vielleicht habe ich es auch nur nicht verstanden).
Wenn ein Buch wirklich gut ist, wird es mich noch lange nach der Lektüre beschäftigen. Die Herstellungsart ist mir – wirklich – völlig egal. Ebenso, ob ein Buch Eselsohren oder einen verdreckten Einband hat. (Nur stinken sollte es nicht im Übermass.)
Vielleicht ist dies auch ein weiterer Punkt, in dem wir uns unterscheiden: Mir ist das Nachleben, Weiterleben, Wuchern, Befruchten, Mutieren, Gebären eines Buches im Geist des Lesers mindestens ebenso wichtig wie die ursprüngliche Lektüre.
(Ich ahne, weshalb wir so unterschiedlicher Auffassung sind, möchte dieses Thema aber nicht wieder anschneiden. Wir begäben uns in gefährliche Gewässer.)
Am 21. Juni 2007 um 10:00 Uhr
Apologie der Erde…
Die Wohnung eines guten Freundes ist vollgestellt mit Büchern. Da in den Regalen kein Platz mehr ist, stapeln sie sich auch an den Wänden. Auf einem dieser Stapel steht ein Blumentopf.
Als er das letzte Mal umzog, mussten wir den Stapel tel quel samt Blumentopf transportieren, da die Pflanze ihre Wurzeln tief durch die Bücher getrieben hatte.
DAS ist ein Verwendungszweck für Bücher, der mir behagt.
Erde zu Erde.
Am 21. Juni 2007 um 10:04 Uhr
Stark. Aber ich schlucke dennoch!
Am 21. Juni 2007 um 10:27 Uhr
Ist das mit unseren Kindern, auch mit uns, nicht ebenso?
Am 19. Juli 2007 um 00:06 Uhr
[…] Gedichte von Guillevic – auch so ein Buch, das ich nie selbst besessen habe. Geliehen hat mir seine Gedichte der Komponist Lothar Voigtländer, den ich noch als Teenager in […]