Michail Alexandrowitsch Wrubel: Sechsflügeliger Seraph

••• Gekauft habe ich Katajews „Gras der Vergessens“ ursprünglich aus nur einem Grund: Der Klappentext versprach, dies sei der Roman eines ungeschriebenen Romans über den Todesengel Azrael. Ich schrieb damals an meinem ersten Romanmanuskript „Der Libellenflügel“. Und Azrael war die selten sichtbare, doch immer anwesende Hauptfigur dieses Textes. Ich kaufte und las alles, was mir zu Azrael unter die Finger kam.

Tatsächlich schreibt Katajew im „Gras des Vergessens“ über ein jahrelang überdachtes, doch nie realisiertes Sujet. Eine junge Frau wird als Agentin in eine konterrevolutionäre terroristische Zelle eingeschleust. Sie soll den Anführer der Verschwörer in sich verliebt machen, um alle notwendigen Informationen für eine Ergreifung und Aburteilung – sprich: Exekution in der Hinrichtungsgarage hinter dem Tscheka-Gefängnis – zu beschaffen. Die junge Tschekistin ist erfolgreich. Zumindest beginnt die „Zielperson“ ein Verhältnis mit ihr. Dummerweise verliebt auch sie sich in den Feind. Dennoch liefert sie ihn ans Messer. Als die Gruppe ausgehoben wird, landet auch sie im Gefängnis. Sie wird erst freigelassen, nachdem alle Mitwisser in der Garage verschwunden sind. So hört sie, wie ihr Geliebter abgeführt wird. Sie hört die Schüsse; und bleibt in den verbleibenden 50 Jahren ihres Lebens ihrer verratenen Liebe treu. Nach ihrem Tod trifft Katajew während einer Reise nach Paris einen Mann, dessen Erzählung die Geschichte vollständig umwirft. Er trifft ihn auf dem Friedhof der russischen Exilanten, auf dem auch Ivan Bunin unterdessen begraben liegt…

Die Idee des Todesengels, der sein „Opfer“ liebt, des Todesengels in Gestalt einer Frau, diese Idee hat mich nicht mehr losgelassen, auch nicht, nachdem ich das „Libellenflügel“-Manuskript, obgleich abgeschlossen, doch als gescheitert ad acta legen musste. Im „Alphabet des Juda Liva“ tauchen dann die weiblichen Seraphen gleich in verschiedenen Verkörperungen auf. Und im mir noch immer liebsten Kapitel des Buches hat Azrael in Gestalt einer Frau schliesslich doch noch einen grossen Auftritt. Als die Matriarchin der Familie Regensburger im Mittagsschlaf an einem Herzinfarkt sterben soll, erscheint Azrael im Zimmer und setzt sich zu ihr aufs Bett. Drei Irrtümer ihres Lebens sollen noch aufgeklärt werden, bevor Azrael mit ihr über das Fensterbrett in eine andere Welt verschwinden und es für die Aufklärung von Irrtümern ein für allemal zu spät sein wird…

Die Gnadenfrist zur Klärung der Irrtümer, die Spanne eingefrorener Zeit zwischen Sterben und Gestorbensein, selbst das Fensterbrett – alles taucht wieder auf auch im „Anderen Blau“. Nur der Engel nicht.

Azrael ist abwesend. Der Tod ist es nicht.

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