••• Regeln sind dafür da, gebrochen zu werden. Ich weiss, dass einige Turmsegler-Leser das ebenso umgehend unterschreiben würden wie Valentin Katajew, der für den forschen Regelbruch gar einen Gattungsbegriff prägte: Mauvismus.
Mauvismus, das ist die Kunst des schlechten Schreibens. Etwa: Er antwortete „nach Ablauf einer gewissen Menge eines physikalischen Maßes, das in bestimmten Kreisen Zeit genannt wird.“ Oder auch das wiederholte unmittelbare Widerrufen einer soeben gemachten Aussage: Ich wusste genau, was er wollte. Ich wusste nicht im Geringsten, was er wollte. Er hatte Blau ausgewählt, vielleicht hatte er auch Grün ausgewählt.
„Ich bin Mauvist!“ Wann immer Katajew dies ausruft, ist allerdings auch ein wenig Augenzwinkern dabei. Er zieht den Mauvismus-Trumpf als Generalentschuldigung. Denn Katajew wusste ausserordentlich genau, wo „schlechtes Schreiben“ beginnt. Und er konnte es sich – in sparsamen Dosen – erlauben, weil er im Übrigen ein brillianter Handwerker der Sprache war.
Regeln sind dafür da, gebrochen zu werden. Und weil dem so ist, werde ich über Katajews Roman „Das Gras des Vergessens“ gleich drei Beiträge schreiben.
„Das Gras des Vergessens“ ist ein gerade einmal 300 Seiten starker „Multi-Roman“, ein taufrisches Alterswerk. Es sind mehrere Bücher in einem. Erzählt wird von Katajews Sozialisation als Leser und der Schule seines Handwerks. Der Roman ist gespickt mit Zitaten, erinnerten Versen, die sein Verständnis von Dichtung und literarischem Schreiben allgemein geprägt haben. Zwei Autoren gaben dabei zu verschiedenen Zeiten gewissermassen die Säulen seines literarischen Weltbilds ab: Ivan Bunin, der spätere Nobelpreisträger, der nach langem Zögern vor der bolschewistischen Revolution geflohen war und im Pariser Exil starb; und Wladimir Majakowski. Das sind nun echte Antipoden, und entsprechend spannend nimmt sich auch die Erzählung aus der Sicht Katajews aus, der in seinem Verständnis von Poesie doch von beiden gelernt und profitiert hat. „Das Gras des Vergessens“ ist aber auch der Roman eines ungeschriebenen Romans. Doch davon morgen mehr.
Für heute, als Einstieg, die Erzählung des ersten Treffens mit Ivan Bunin, dem eine jahrelange, intensive Freundschaft folgte.
Ein streng offizieller Blick, uns musternd. Bunin streckt uns mit Abstand je eine Hand hin, die eine mir, die andere Wowka Dietrichstein, jedoch keineswegs, um die unseren zu drücken, sondern um unsere Gedichte entgegenzunehmen.
Wowka Diderix alias W. v. Dietrichstein, so pflegt er zu unterzeichnen, war ebenfalls ein junger Dichter, wenn auch beträchtlich älter als ich. Reicher Student, cremefarbene Flanellhose, Homespunjacke, runder, steifer Strohhut, einen dicken goldenen Siegelring mit Familienwappen am Finger, das semmelblonde Affenfrätzchen eines baltischen Barons, bei dem die weit auseinanderstehenden Zähne beim Sprechen sichtbar wurden. Typischer letzter Sproß eines Geschlechts.
Unter dem zwingenden Blick legten wir gehorsam unsere Werke in Bunins wartend ausgestreckte Hände: Wowka sein eben im Eigenverlag erschienenes Bändchen dekadenter Verse, betitelt „Welker Blütenkranz“, Büttenpapier mit Wasserzeichen, zweifarbiger Einband, und ich eine dicke Kladde, die ich hinter dem Lederriemen meiner Gymnasiastenuniform hervorzog. Der Metallverschluß war stark abgestoßen.
Bunins griffeste Finger umspannten unsere Werke. Er hieß uns, in vierzehn Tagen wiederzukommen, gab uns mit einer leichten korrekten Neigung des Kopfes zu verstehen, dass die Audienz beendet sei, und verschwand. Sein Bruder Julius erläuterte, Wanja sei in großer Eile, er müsse zu Besuch, und geleitete uns die paar Schritte über die Terrasse bis zu den Stufen, die auf den kiesbestreuten Gartenweg führten, knirschenden Kies wie auf allen Gartenwegen aller Odessaer Landhäuser.
Zwei Wochen später, pünktlich auf die Minute, standen wir neuerlich auf den Steinfliesen der schon bekannten Terrasse. Über das Geländer strebten uns flammendrote Würstchen entgegen, die Blütenbüschel einer Pflanze, deren Namen ich damals noch nicht kannte und erst nach ungefähr fünfzig Jahren erfahren sollte.
„Wanja, Besuch“, rief der kleine Dicke an der Tür.
„Wer denn?“ fragte eine gereizte Stimme.
„Die jungen Dichter.“
„Augenblick.“
An der Schwelle der Glastür zeigte sich Bunin, wie beim erstenmal. In den ausgestreckten Händen hielt er unsere Gedichte. Und er irrte sich nicht, das Büchlein gab er Wowka, mir meine Kladde.
„Ihre Verse habe ich gelesen…“ Es klang streng, wie beim Arzt. Und daß er hauptsächlich zu Wowka hin sprach, traf mich schmerzlich, denn es bestätigte wieder einmal meine Beobachtung, daß ich in Gesellschaft, selbst in noch so kleiner, entweder völlig übersehen oder doch als letzter bemerkt wurde. Das schien mir eine Ausstrahlung meiner Persönlichkeit zu sein. „Tja, schwer für mich, etwas Bestimmtes zu sagen, aber diese Art Poesie ist mir doch recht fremd.“
Wowka griente albern und arrogant.
„Vielleicht wenden Sie sich lieber an einen Dekadenzdichter, etwa an Balmont. Denn ich … was soll ich Ihnen sagen … Sehr schwierig für mich. Manieriert, kokett, unklar, verschwommen, prätentiös. Stellenweise einfach schlechtes Russisch.“
[…]
Diesmal begleitete er uns selbst bis an die Stufen und drückte uns die Hand, erst Wowka, dann mir.
Und da geschah das Wunder. Das erste Wunder meines Lebens.
Wowka stieg bereits die Stufen hinab, da hielt Bunin mich sacht am Ärmel meiner Gymnasiastenjacke fest und sagte leise, wie zu sich selbst:
„Kommen Sie nächstens mal vormittags. Wir haben zu reden.“
Gleichzeitig zog er behutsam das unter meinen Arm geklemmte Heft wieder an sich und versteckte es hinter seinem Rücken.
Es bedarf keiner übermäßigen Phantasie, sich meinen Zustand während der vier oder fünf Tage auszumalen, die ich mir als Anstandsfrist abgerungen hatte, denn ich konnte doch unmöglich schon am nächsten Tag angerückt kommen.
Am 28. Mai 2007 um 10:03 Uhr
..sehr interessant! da freut man sich schon auf ihre folgenden berichte!
Am 28. Mai 2007 um 12:13 Uhr
:-) was für ein schöner Text und genauso erging es mir mit Sibylle Berg, nur sehr anders und doch ähnlich, wie stolz ich war, als sie meine Gedichte haben wollte um sie in ihrer Zeitschrift zu drucken….Ach je, ich bin ein schlechter Dichter
Am 28. Mai 2007 um 12:28 Uhr
Schlechter Dichter? Mauvist! ;-)
Am 28. Mai 2007 um 12:34 Uhr
genau ein MAUVIST…..aber psssstttt nicht weitererzählen
Am 28. Mai 2007 um 12:45 Uhr
Natürlich nicht…