Ein Gastbeitrag von Markus A. Hediger
zu Jorge Luis Borges
••• Nicht alle Erzählungen von Borges untermauern seinen Ruf als herausragenden Autor. Nebst den phantastischen Geschichten, für die er bekannt wurde und durch die er Weltruhm erlangte, gibt es auch die vielen anderen. Diese Erzählungen sind solides Handwerk. Gut erzählt, stilsicher geschrieben, darin unverkennbar Borges, ja, aber nichts Aussergewöhnliches. Sie erzählen von Begebenheiten, die geschehen sein könnten, aber ebenso gut nicht, es sind Präzisierungen, vorgenommen durch einen Mann, der die durch den Volksmund verbreitete Folklore in eine literarische Form einpasst. Für den Leser ist es völlig belanglos, ob die berichteten Ereignisse tatsächlich geschehen oder Erfindung sind – während der Lektüre werden sie wahr und geben keinerlei Anlass, an ihnen zu zweifeln. Die Wirklichkeit des Berichteten ist die Wirklichkeit des Lesers. Ich denke da zum Beispiel an „Der Tote“, „Die Narbe“ oder „Die Geschichte des Rosendo Juárez“. Einigen seiner Erzählungen schreibt Borges persönlich eine realistische Qualität zu.
Und dann gibt es da die anderen Erzählungen, in denen die Wirklichkeiten ineinander greifen, ineinander wirken und die Wirklichkeit des Lesers – zumindest während der Zeit der Lektüre – in Frage stellt. „Das Aleph“, zum Beispiel, beginnt mit einer langatmigen Schilderung einer nervtötenden Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler und einem Dichter furchtbar schwülstiger und pompöser Werke, man fragt sich als Leser, wohin die Erzählung führen soll, dann diese Passage:
Nun komme ich zum unsagbaren Mittelpunkt meines Berichts; hier beginnt meine Verzweiflung als Schriftsteller. Alle Sprache ist ein Alphabet aus Symbolen, deren Anwendung eine den Gesprächspartnern gemeinsame Vergangenheit voraussetzt; wie soll ich anderen das unendliche Aleph mitteilen, das mein furchtsames Gedächtnis kaum erfasst? […] In diesem gigantischen Augenblick habe ich Millionen köstlicher und grässlicher Vorgänge gesehen; keiner erstaunte mich so sehr wie die Tatsache, dass sie alle in demselben Punkt stattfanden, ohne Überlagerung und ohne Transparenz. Was meine Augen sahen, war simultan: was ich beschreiben werde, ist sukzessiv, weil die Sprache es ist.
Es folgt ein Mammutsatz, der sich über mehr als eine Seite erstreckt und das Unmögliche zu beschreiben versucht:
[…] das unfassliche Universum.
In „Das Sandbuch“, in „Blaue Tiger“ geschieht erzählerisch Ähnliches: In „unsere“ Welt bricht etwas Unfassliches herein, etwas, das jeder Logik, mit der wir Leser uns die Welt erklären, widerspricht. Während der Dauer der Lektüre sind die Gesetze der Welt aus den Angeln gehoben.
Eine andere Erzählung, die in Bezug auf das Spiel mit Wirklichkeiten ein eigenes Kapitel verdiente, möchte ich hier nur am Rande erwähnen. In „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“ – eine Zusammenfassung finden Sie bei Wikipedia, aber bitte, bitte lesen Sie die Erzählung! – vermengt Borges virtuos alle nur denkbaren literarischen Wirklichkeitsformen: Es finden sich darin (vorgeblich) autobiographische Elemente („reale“ Welt), das Einbrechen von Fiktion in die Realität (ein fiktiver Artikel in einer Enzyklopädie), die Rekonstruktion einer Fiktion und später die Aufdeckung einer Gruppe verschwiegener Männer, die sich der Erschaffung eines Planeten samt eigener Sprachen und Philosophien verschrieben haben, und schliesslich das Auftauchen von Gegenständen dieser erfundenen Welt in der realen Welt. Das Auseinanderhalten der verschiedenen Wirklichkeiten während der Lektüre erfordert ein hohes Mass an Lesekunst. Viel wurde und könnte man noch schreiben über diesen grandiosen Text, in dem es vorkommen kann, dass in einem einzigen Nebensatz ein ganzes Universum erschaffen wird. Ich möchte mich jetzt jedoch auf eine weitere Borges’sche Textgattung konzentrieren, deren erfundene Wirklichkeit über die Zeit der Lektüre hinaus in unsere „reale“ Welt hineingreift, nämlich die der Rezensionen über Bücher, die nie geschrieben wurden.
Im Vorwort zu seinem Büchlein „Fiktionen“ schreibt Borges – Bezug nehmend auf seinen Text „Untersuchung des Werks von Herbert Quain“:
Ein mühseliger und strapazierender Unsinn ist es, dicke Bücher zu verfassen; auf fünfhundert Seiten einen Gedanken auszuwalzen, dessen vollkommen ausreichende mündliche Darlegung wenige Minuten beansprucht. Ein besseres Verfahren ist es, so zu tun, als gäbe es diese Bücher bereits, und ein Résumé, einen Kommentar vorzulegen.
Nicht nur der Autor tut so, als gäbe es das Werk des Herbert Quain. Der Leser muss es ebenfalls tun, denn sonst ergibt die Lektüre der ca. fünf Seiten von Borges über Quain keinen Sinn. Um es auszubuchstabieren: Der Leser weiss, dass die ihm vorliegende Rezension sich auf ein nicht existierendes Werk bezieht. Aber die Rezension ist „real“, sie ist greifbar. Um ihr einen Sinn entnehmen zu können, muss der Leser sich nun wider besseres Wissen übertölpeln und die Existenz dieses Werks und seines Autors in der realen Welt postulieren. So gerät er in den Genuss, etwas Neues über etwas zu erfahren, das existiert. Existierte es nicht, wäre die Lektüre der Rezension sinnlos. Der Existenzanspruch des Quain’schen Werkes wird noch untermauert durch den Hinweis des Autors, von Quain stamme die Erzählung „Die kreisförmigen Ruinen“. Und diese Erzählung, meine Damen und Herren, existiert tatsächlich: Sie findet sich in dem Büchlein, das den verstörenden Titel „Fiktionen“ trägt.
Das ist ziemlich gerissen. Aber Borges findet auch hierfür noch eine Steigerung – und damit will ich schliessen:
„Pierre Menard, Autor des Quijote“ beginnt mit einem Überblick über die literarische Hinterlassenschaft des Autors Pierre Menard. Meist Unbedeutendes ist’s, was in seinem Privatarchiv gefunden wird: Monographien, Untersuchungen, Übersetzungen, aber auch eine Reihe bewundernswerter Sonette. Dann kommt Borges auf das wahre, das wahrlich bedeutende Unternehmen Menards zu sprechen, die Abfassung des Quijote:
Er wollte nicht einen anderen Quijote verfassen – was leicht ist -, sondern den Quijote. Unnütz hinzuzufügen, dass er niemals eine mechanische Transkription ins Auge fasste; er wollte es nicht kopieren. Sein bewundernswerter Ehrgeiz war es, ein paar Seiten hervorzubringen, die – Wort für Wort und Zeile für Zeile – mit denen von Miguel de Cervantes übereinstimmen sollten.
Und so wird das Vorgehen Menards beschrieben:
Die Methode, die er sich anfänglich ausdachte, war relativ einfach. Gründlich Spanisch lernen, den katholischen Glauben wiedererlangen, gegen die Mauren oder gegen den Türken kämpfen, die Geschichte Europas zwischen 1602 und 1918 vergessen, Miguel de Cervantes sein. Pierre Menard studierte dieses Verfahren […], schob es aber als zu leicht beiseite. Eher darum, weil es unmöglich war, wird der Leser sagen. Einverstanden, aber das Vorhaben war von vornherein unmöglich, und von allen unmöglichen Mitteln, es zu Ende zu führen, war dieses am wenigsten interessant. Im 20. Jahrhundert ein populärer Schriftsteller des 17. Jahrhunderts zu sein, kam ihm wie eine Herabminderung vor. Auf irgendeine Art Cervantes zu sein und zum Quijote zu gelangen, erschien ihm weniger schwierig – und infolgedessen auch weniger interessant -, als weiter Pierre Menard zu bleiben und durch die Erlebnisse Pierre Menards zum Quijote zu gelangen.
Menard gelingt es, einige Zeilen des Quijote zu schreiben. Wort für Wort ist es identisch mit dem Werk Cervantes, und doch ist es ein anderer Text. Er stammt von Menard. Feinfühlig vergleicht Borges die beiden Texte und deckt die Unterschiede auf.
Was genau geschieht in dieser Erzählung? Ein Objekt, ein Gegenstand, ein Buch wird aus der realen Welt (niemand wird bestreiten wollen, dass Cervantes‘ Quijote Bestandteil unserer „realen“ Welt ist) in eine fiktive Wirklichkeit (die Welt Pierre Menards) gehoben. Dort wird dieses „reale“ Objekt fiktionalisiert – ein fiktiver Autor schreibt es neu, macht es zu seiner Fiktion. In dieser fiktiven Welt werden nun Vergleiche gezogen zwischen dem fiktiven und dem „realen“ Quijote. Der Leser macht dieses Spiel mit: Auch er vergleicht Menards Quijote mit dem realen Quijote, und damit lässt er die Wirklichkeit der Erzählung in seine eigene Wirklichkeit hinein. Vielleicht merkt er es nicht während der Lektüre, aber wenn er Borges Erzählung beiseite legt, wird er Cervantes‘ Quijote nie mehr so lesen können, als sei er nicht von Menard geschrieben.
Vor wenigen Wochen gab Benjamin Stein einem seiner Beiträge den Titel „Was ich erzähle, geschieht“. Das ist weit mehr als eine blosse Behauptung oder Ausdruck einer Überzeugung, weit mehr als die Apologie eines Autors, der seine Tätigkeit zu rechtfertigen versucht. In Borges‘ „Pierre Menard, Autor des Quijote“ wird sie wahr.
Nun wage keiner mehr zu sagen, Literatur habe nicht die Kraft, die Welt zu verändern…
Am 25. Mai 2007 um 07:44 Uhr
Na ja, aber wir wissen doch auch das Gregor Samsa nicht existiert, dass er nicht eines morgens aufwacht und plötzlich ein Käfer ist, oder das Kater Murr uns selbstmurmelnd nur deshalb etwas aus seinem Leben erzählen kann, weil er E.T.A Hoffmann als Schreibgerät benutzte.
Das ist ja das große an den Großen, dass sie uns so nahe kommen dass wir ihnen alles glauben. Auch Lolita existiert nicht, oder Anne Karenina und trotzdem hat man den Eindruck, dass man ihnen jederzeit begegnen kann.
Ich denke das alles fiktionale und mystische in den Händen, besser noch im Kopf des Lesers und der Leserin liegt. Dort nämlich macht sich Gregor Samsa Sorgen um die Zukunft seiner Familie und dort läuft Kater Murr über die Dächer seiner Stadt, immer in Hoffnung auf eine neue Eroberung und dort sitzt auch Anna Karenina und wartet auf den nächsten Zug.
Schreiben ist etwas unfassbares. Von den meisten Sätzen die man aufschreibt ahnt der Dichter noch nichts, erst wenn er sie betrachtet sind sie auch für ihn existent, aber das ist vielleicht nur meine Wahrheit, über die ich während ich es aufschreibe schon wieder zweifle. Jedenfalls sollte ich mal anfangen Borges zu lesen, bislang habe ich nur einige Gedichte und das „Buch der Träume“ von ihm gelesen, das allerdings gerne.
Am 25. Mai 2007 um 08:42 Uhr
Das Ineinandergreifen von Wirklichkeiten bei Borges…
am Beispiel von "Pierre Menard, Autor des Quijote". (Ergänzung zu meinem Gastbeitrag auf Benjamins Steins Turmsegler.) Schon als Kind las ich gerne. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich das erste Mal die kleine Schulbibliothek…
Am 25. Mai 2007 um 08:49 Uhr
@Hilbi: Natürlich liegt alles Fiktionale in unseren Köpfen. Aber alles „reale“ auch. Das, was wir Wirklichkeit nennen, beruht zum allergrössten Teil auf einem Konsens, den eine Kultur über das, was sie „Welt“ nennt, gefunden hat. Man könnte es auch so sagen: Eine Erzählung ist eine Fiktion, die aus der Feder eines Menschen stammt. Die Welt ist eine Fiktion, die aus der Feder und den Mündern und den Herzen von Millionen und Abermillionen entstand.
Aber ich gestehe sofort zu, dass wir diese künstliche Aufteilung, die Trennung zwischen „Wirklichkeit“ und „Fiktion“ brauchen, um miteinander verkehren und um uns in der Welt bewegen zu können. Ganz wichtig aber: die Fiktion „Welt“ oder „Wirklichkeit“ ist nichts Abgeschlossenes. Sie entsteht und verändert sich andauernd. Konstant sind wir bemüht, uns auf sie zu einigen. Das ist nicht immer ein schmerzloser Prozess…
Am 25. Mai 2007 um 08:51 Uhr
@Hilbi: Auf meinem Weblog habe ich versucht, die Verschränkung von „Wirklichkeit“ und „Fiktion“, die Mechanismen gegenseitiger Beeinflussung und Abhängigkeit aufzuzeigen. Etwas trocken, die Lektüre, aber trotzdem…
Am 25. Mai 2007 um 09:47 Uhr
Das ist allerdings wahr. Und für die grössten Dichter war es jeweils sogar ein besonders schmerzlicher Prozess – überall dort, wo die eigene Grenzziehung von jener der Kulturmillionen abwich und abweicht.
Am 25. Mai 2007 um 10:27 Uhr
Bevor ich die trockene Lektüre zu mich nehme, möchte ich doch noch einmal etwas fragen, ich lese gerade „Fiktionen“ von Borges und mir ist schon klar was Ihr meint oder Du oder Sie, wie auch immer. Bloß würde mich interessieren wie es mit Kafka ist, ich weiß dass ist jetzt etwas anderes, aber nur vielleicht.
Ist Kafka für Euch ein fiktionaler Dichter oder einer der etwas „wirkliches“ beschreibt.
Bei Borges verrutscht es ja dauernd, ich kann mich an das „Buch der Träume“ erinnern, dort gibt es eine Stelle in der ein kleiner Junge träumt dass er sich im Wald verläuft, er findet ein Holzhäuschen, klopft an, sein Vater macht auf, läßt ihn aber nicht rein.“
Am nächsten Morgen erzählt der Junge dem Vater seinen Traum und fragt ihn sehr ernst, „warum hast du mich nicht reingelassen.“
(das ist natürlich nicht Borges, sondern aus meinem Gedächtnis geschrieben)
Am 25. Mai 2007 um 10:35 Uhr
Das war aber alles andere als trocken…
Am 26. Mai 2007 um 19:12 Uhr
Da kann man Borges sehen und wer spanisch kann….