Das Kernproblem des Schriftstellers ist die Sprache. Sie ist ihrem Wesen nach sukzessiv, sie schildert, wie die aristotelische Zeit, ein Vorher und ein Nachher und vermittelt damit dem Leser einen vollkommen falschen Eindruck, da jedes Ereignis in Wirklichkeit der Simultanität folgt. Erst, wenn es einem Autor gelänge, in einem einzigen Satz, in einem einzigen Wort, alles zugleich zum Ausdruck zu bringen, hätte er das Problem der Sprache bewältigt.
••• Ich bin polyglott. Etwa 14 Sprachen schreibe und lese ich fliessend. [Angeber!] Nur nützt mir das leider nichts, was die Dichtung betrifft. Denn fast alle diese Sprachen bestehen nur aus Befehlen, mit denen man Maschinen lebendig machen kann. Aber dichten?
Nun finde ich Programmiersprachen mit ihren schönen Strukturen, runden und geschweiften Klammern, den Zeichenhäufungen zwischen kategorischen Anweisungen ungemein poetisch. Ich fürchte aber, dass kaum jemand dieses Empfinden mit mir teilt. Es ist doch eine recht spezielle Vorliebe.
Die oben zitierten Sätze im Sinn, fällt mir an diesen (literarisch verkannten) Sprachen zweierlei auf. Erstens: Programmiersprachen kennen ausschliesslich eine Zeitform – die Gegenwart. Dennoch werden Abläufe gestaltet.
Und zweitens: Gleichzeitigkeit ist in der Programmierung eine Illusion. In Wirklichkeit erfolgt die Ausführung von Programmcode immer sequentiell. Die zur Verfügung stehende Prozessorzeit wird vom Betriebssystem in Zeitscheiben geteilt, die den vemeintlich parallel ausgeführten Programmen zugeteilt werden. Ist die zugeteilte Zeit verbraucht, wird das Programm unterbrochen; und das Code-Fragment, dem die nächste Zeitscheibe zusteht, kommt zur Ausführung. Die Illusion der gleichzeitigen Ausführung entsteht lediglich dadurch, das der Zyklus von Unterbrechung und Fortsetzung der Ausführung hinreichend kurz ist, um uns darüber zu täuschen, was tatsächlich geschieht.
Wenn sequentielles Geschehen den Eindruck von Gleichzeitigkeit erzeugen kann, besteht das von p.- oben beschriebene Problem nicht. Aber es wäre noch immer zu klären, wie die Illusion zu bewerkstelligen ist.
Der Verzicht auf Vorher und Nachher in der Sprache schliesslich, also eine Sprache, die nur über das Präsens verfügt, würde gar nicht mehr zur Darstellung taugen. Denn alle Eindrücke, die auf uns einstürmen, bestehen nicht nur aus einem von aussen kommenden Reiz, sondern fügen sich erst mit einem Davor zur Wahrnehmung zusammen, mag dieses Davor Jahre oder Sekundenbruchteile zurückliegen. Das Geräusch eines herannahenden Zuges ist uns nur das Geräusch eines herannahenden Zuges, wenn wir es nicht zum ersten Mal hören. Die Empfindung von Wärme und Kälte hängt massgeblich von den Übergängen vom einen ins andere ab. In beiden Fällen wird aus dem Reiz keine Wahrnehmung ohne die Existenz der aristotelischen Zeit, ohne Vorher und Nachher, ohne Erinnerung an eine Vergangenheit.
Ohne den Ablauf der Zeit würde aus keinem Ereignis Wirklichkeit. Es erreichte uns nicht. Es bedeutete uns nichts. Die Simultanität ist die Täuschung. Die Sprache hat Recht.
Am 17. Mai 2007 um 03:46 Uhr
Als Leser interessiert es nicht, wie illusorisch ein Werk ist. Es interessiert auch nicht, wie lang oder kurz Zyklen von Unterbrechung und Fortsetzung sind. Im Grunde interessiert den Leser, wie sehr man mit und in einem Werk er/leben, mit/fühlen, sich/etwas neu/er-/finden kann.
Meiner Meinung nach besteht da nicht wirklich ein Problem. Mich würde eher interessieren, warum in der nicht vorhandenen Simultanität ein Problem gesehen wird.
Im Übrigen teile ich die Vorliebe für Klammern, Striche, Punkte und dergleichen. Obwohl oder weil ich keine Ahnung von Programmiersprachen habe.
Mit Grüßen
C. Sommer
Am 17. Mai 2007 um 06:52 Uhr
Um es etwas polemisch auszudrücken: Die Lösung dieses Problems liegt im Verstummen.
Ich möchte, wie Benjamin es in seinem Beitrag auch tut, eine Lanze für die Zeit brechen. Egal, ob sie eine Illusion ist, ob sie ein menschliches Konstrukt ist: Sie ist eine schöne Erfindung, denn sie hat – neben der Liebe, die sich ja erst im Handeln (also in einem Vorher, einem Jetzt und einem Danach) zu ihrer ganzen Grösse entfaltet – auch die Sprache hervorgebracht.
Am 17. Mai 2007 um 08:20 Uhr
eine wunderbare, sonderbare, absurde, traurige, mysteriöse, lustige, lachhafte, eine kriminielle, eine machtbesessene, eine leuchtende, eine helle und eine dunkle Erfindung… Und sie ist am Ende das Einzige, das bleiben wird
Am 17. Mai 2007 um 09:21 Uhr
@Hilbi: Die Liebe oder die Zeit?
Am 17. Mai 2007 um 09:35 Uhr
ich hab die Liebe vergessen :-(
Am 17. Mai 2007 um 13:27 Uhr
Die Schönheit der Zeit für die Sprache ist gerade deshalb schön, weil sie Illusion ist. Schliesslich kennen wir gleich vier verschiedene Zeiten: die molekulare, biologische, psychologische und historische Zeit. Es ist ja nicht davon zu sprechen, dass es Zeit nicht gibt, sondern dass es DIE ZEIT nicht gibt und dass sie schon gar nichts mit unseren Uhren zu tun hat.
Und dann ist da noch die Ewigkeit zu erwähnen. Absolute Bewegung, die selbst nichts mehr bewegen kann und allein im Licht manifest ist – die Photonen sind bekanntlich masselos; könnte ebenso als Stillstand ausgelegt werden, so dass Ewigkeit und absolute Bewegung zusammenfallen. Hegel sagt dann ja auch: „Die Ewigkeit ist gegenwärtig überhaupt.“
Am 17. Mai 2007 um 14:52 Uhr
14 Sprachen, das ist wahrlich nicht wenig, welche sind es denn?
Am 17. Mai 2007 um 16:30 Uhr
Zum Lesen von Büchern langt es nur in Deutsch, Englisch und Althebräisch. Die Programmiersprachen gebe ich lieber nicht bekannt. Sonst bekomme ich noch Support-Anfragen.
Am 17. Mai 2007 um 22:59 Uhr
Mit dem Spaß an Programmcode stehst du nicht ganz so allein wie du denkst. Ein Bekannter sagte neulich: „Nur schöner Code ist guter Code“.
Interessanterweise verglich er Funktionsaufrufe mit Zeitschnörkeln in Texten lebendiger Sprachen. Wobei wir der Meinung waren, daß es beim Programmiercode durchaus eine sehr gute Annäherung an Gleichzeitigkeit gibt. Denn für die aufrufende Routine ist der Aufruf identisch mit dem Rücksprung. Beide erfolgen in (für sie) unmittelbar aufeinanderfolgenden Prozessor-Zyklen. Es wird nicht gewartet – jedenfalls nicht, wenn nicht ein objektiver Zeitbegriff verwendet wird, sondern der subjektive der aktuellen Routine.
Dazu sind etwa Programmfäden wie in modernen Dialekten intern durchaus gleichzeitige Prozesse. Selbst Ausnahmen sind für den die Ausnahme werfenden Prozeß nicht als zeitliche Prozesse, sondern stets als singuläre und sofort wirksame Ereignisse vorhanden.
Ganz anders die menschlichen Sprachen. Ein Aufforderung, ein eigeschobener Satz, eine Erinnerung usw. ist immer als Prozeß gesprochen, sichtbar, spürbar, erlebbar.
Aussagen wie, in einem Satz oder gar Wort alles sagen zu wollen, klingen daher zwar recht mächtig, sind aber, was lebendige Sprachen angeht, in meinen Augen nichts als heiße Luft. Nicht aber in den Programmiersprachen. Hier kann main() tatsächlich Alles sagen.
(Na gut, korrekt sollte es „void main()“ heißen, also doch 2 Worte)
Am 18. Mai 2007 um 00:42 Uhr
@SuMuze: Sehr wohltuend, dass jemand diese Leidenschaft teilt! Noch korrekter müsste es übrigens heissen
int main( int argc, char* argv[] )
Das sind dann schon sechs Worte, aber interagieren sogar mit der Aussenwelt ;-)
Am 18. Mai 2007 um 08:09 Uhr
Oh Benjamin,
int und die Parameterübergabe sind aber sehr Implementations-spezifische Entscheidungen. Worte nicht für alle?
Siehst du, wie schwer es ist, sich zu bescheiden?
Am 18. Mai 2007 um 08:42 Uhr
Das ist es.
Am 27. Januar 2008 um 00:53 Uhr
[…] Von Programmiersprachen und der ihnen eigenen Poesie war hier schon einmal die Rede. Das C-Programm im obigen Tattoo ist ein wunderbares Beispiel […]