••• In den Kommentaren zum Benn-Beitrag von heute habe ich zwei Gedanken aus der Vorlesung aus dem Gedächtnis wiedergegeben. Die Originalzitate wollte ich nicht schuldig bleiben:
[…] die Öffentlichkeit lebt nämlich vielfach der Meinung: da ist eine Heidelandschaft oder ein Sonnenuntergang, und da steht ein junger Mann oder ein Fräulein, hat eine melancholische Stimmung, und nun entsteht ein Gedicht. Nein, so entsteht kein Gedicht. Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht. Wenn Sie vom Gereimten das Stimmungsmäßige abziehen, was dann übrigbleibt, das ist dann vielleicht ein Gedicht.
Und zum Beweis der Fragwürdigkeit des Paraphrasierens aus dem löchrigen Gedächtnis:
[…] – und nun kommt das Rätselhafte: das Gedicht ist schon fertig, ehe es begonnen hat, er [Anm.: der Dichter] weiß nur seinen Text noch nicht. Das Gedicht kann gar nicht anders lauten, als es eben lautet, wenn es fertig ist. Sie wissen ganz genau, wann es fertig ist, das kann natürlich lange dauern, wochenlang, jahrelang, aber bevor es nicht fertig ist, geben Sie es nicht aus der Hand.
Aus: Gottfried Benn, „Probleme der Lyrik“ (1951)
Am 15. Mai 2007 um 21:02 Uhr
Ein Zitat von Ossip Mandelstam:
Am 16. Mai 2007 um 08:14 Uhr
Ich wünschte, mit meinen Texten wäre es so. Aber vielleicht verhält es sich mit Erzählungen anders als mit Gedichten? In Erzählungen gibt es immer ein Wort, das man ändern könnte, immer eine Farbnuance, die man weglassen oder hinzufügen könnte, ohne dass dadurch die ganze Geschichte oder ihr Funktionieren aufs Spiel gesetzt würde. (Dass in einer Erzählung der Plot wichtiger wäre als die sprachliche Form, als ihr Rhythmus, will ich damit keinesfalls gesagt haben. Ganz im Gegenteil. Ist die Form dem Plot nicht angemessen, ist die Erzählung tot.)
Am 16. Mai 2007 um 08:48 Uhr
Durs Grünbein, Galilei vermißt Dantes Hölle, erschienen bei Suhrkamp (unbedingt lesenswert )
Am 17. Mai 2007 um 00:35 Uhr
noch einmal Gottfried Benn.
A: Sie sehen diesen Zug, der schweigsamen Gestalten – ich zeige Ihnen einen anderen Zug. 36 000 offene Tuberkulöse leben in Berlin und finden keine Stätte, 40 000 Frauen sterben in Deutschland jährlich an den Folgen eines verbotenen Eingriffs, infolge jenes von Ihnen zitierten Paragraphen. Gedenken Sie der Arbeitslosen, junge Männer. Dreißigjährige, die in der Stadt keine Beschäftigung und keinen Lohn finden, aber dafür in ihrer Wohnung Schlafburschen und Ratten. Hören Sie folgendes Dokument: ein elfköpfiger Haushalt, der Vater trinkt, die Mutter erwartet die Niederkunft des 10. Kindes, die Vierzehnjährige kauft sich für einen Groschen Rinderblut beim Schlächter, gießt es sich über die Brust, um mit Hilfe diese fingierten Blutsturzes aus der überfüllten Wohnung in eine Lungenheilsstätte zu gelangen. Das ist doch Kummer, das sind doch Tränen, schuldloser Jammer, Bastardierungen des Glücks- da sieht der Dichter zu?
B: Ich zögere nicht einen Augenblick: ja, da sieht der Dichter zu. Nicht der, der die Zivilisationslektüre verfaßt und für den Abend die geistige Vorwände für die Kulissenverschiebungen, der beim Bankett neben dem Minister sitzt, die Nelke im Frack und fünf Weingläser am Gedeck: der unterschreibt Aufrufe gegen die Notsstände der Zeit. aber der sieht zu, der weiß, daß der schuldlose Jammer der Welt niemals durch Fürsorgemaßnahmen behoben, niemals durch materielle Verbesserungen überwunden werden kann. Hygenische Wunschräusche kurzbeiniger Ratsionalisten: hab`Rente im Herzen und Höhensonne im Haus. Eine Schöpfung ohne Grauen. Dschungel ohne Bisse. Nächte ohne Mahre, die die Opfer reiten- nein, der Dichter sieht zu in der vor keinem Tod verleugnenden Überzeugung, daß er alleine die Substanz besitzt, das Grauen zu bannen und die Opfer zu versöhnen: so sinke, ruft er ihnen zu, so sinke denn, aber ich könnte auch sagen: steige.“
Das stammt aus dem Buch „Provoziertes Leben“ und ist ein Interview das Benn mit sich selber führte, ich finde es unglaublich stark und es meint eigentlich das was ich an einer anderen Stelle einmal mit politischen, oder meinthalben menschlichen Bewusstsein war.
Der Dichter ist so ziemlich der einzige, der die Wahrheit aussprechen kann und das tut er auf die vielfältigste Weise.