Mittelmäßige Romane sind nicht so unerträglich, sie können unterhalten, belehren, spannend sein, aber Lyrik muß entweder exorbitant sein oder gar nicht. Das gehört zu ihrem Wesen.
••• Letzte Woche kam Post vom Herrn H. aus H. – ein schmales antiquarisches Bändchen mit einer Poetik-Vorlesung, die Gottfried Benn am 21. August 1951 an seiner einstigen Alma Mater in Marburg hielt: „Probleme der Lyrik“. Das war sehr nett vom Herrn H. Ich habe mich gefreut und sende gern Grüsse zurück vom Herrn St. aus M.
Ich mag antiquarische Bücher, besonders wenn die Vor-Besitzer darin Anstreichungen hinterlassen haben – mit Bleistift natürlich. Das sind jene, die dem Buch noch Achtung entgegenbringen und davon ausgehen, dass sie es später noch viele Male zur Hand nehmen werden und die wichtigen Stellen, an die sie sich zumindest noch ungefähr erinnern, schnell zu finden hoffen.
Dieses Buch nun hat mir eine halbe Stadtrundfahrt beschert. Ich war so in die Lektüre vertieft, dass ich auf dem Weg ins Büro in die falsche U-Bahn eingestiegen und bis zur Endstation durchgefahren bin, ohne es zu merken. Bis zurück zum Umsteigebahnhof dauerte es 20 Minuten, bis zum Büro schliesslich noch einmal 15. So bekam ich diese Vorlesung wenigstens am Stück zu lesen.
Benn hat uns manch Verblüffendes über Lyrik zu sagen. Ich glaube, ich werde noch öfter auf ihn und diese Vorlesung zurückkommen. Für heute will ich es bei dieser Mahnung an die Lyriker belassen. Ich gestehe, ich lese Lyrik auch ganz in diesem Sinne. Ich kann nicht anders.
Das macht mich zu einem undankbaren Leser, ich weiss.
Am 15. Mai 2007 um 08:31 Uhr
Sagt Benn in seiner Vorlesung auch, was er unter „exorbitant“ versteht?
Am 15. Mai 2007 um 09:09 Uhr
Das tut er. Und ich werde in der nächsten Zeit ein paar Kostproben geben.
Zwei komplementäre Aussagen fand ich bspw. bestechend: Gedichte stossen einem nicht zu, sie werden gemacht. Dazu andererseits: Das Gedicht ist das Eine, einzig auf diese bestimmte Art Sagbare. Es war immer schon da; es sucht sich nur die passende Form. [Es ist jetzt natürlich gefährlich, aus dem Gedächtnis zu paraphrasieren. Ich liefere die Originalzitate nach.]
Besonders interessant an der Lektüre sind auch jene Passagen, wo Benn sich verstrickt und grad das Gegenteil von Thesen behauptet, die er zuvor aufgestellt hat. Das Buch ist übrigens noch in geringer Zahl erhältlich.
Am 15. Mai 2007 um 09:39 Uhr
Das eine bedingt das andere, glaube ich. Da ist zum einen die harte Arbeit, die intensive Auseinandersetzung mit dem Stoff, bis man ihn sich so sehr zu eigen gemacht hat, dass er seine Form zeigt. Gelangt man an diesen Punkt, „sieht“ man die Form und es ist einem, als habe man nur etwas längst Bestehendes aufgedeckt. Aber dieses „Aufdecken“ erfordert Geduld und Beharrlichkeit. Darin besteht m.E. die eigentliche Arbeit des Schriftstellers. (Wer sagte, erfinden sei erinnern? Ich las das bei einem Südamerikaner…)
Am 15. Mai 2007 um 11:38 Uhr
Ha, so hätte ich das sagen wollen, wenn ich nur gleich die Form gefunden hätte…
Am 15. Mai 2007 um 20:15 Uhr
[…] In den Kommentaren zum Benn-Beitrag von heute habe ich zwei Gedanken aus der Vorlesung aus dem Gedächtnis wiedergegeben. Die […]
Am 1. August 2007 um 22:06 Uhr
[…] Ich war völlig perplex. Wenn ich Fotos von Benn sehe, wenn ich seine Gedichte lese, stelle ich mir eine sonore, eher tiefe Stimme vor. Und nun […]
Am 30. August 2007 um 00:08 Uhr
[…] In zwei Bänden findet sich die Lyrik und die künstlerische Prosa Benns. Was leider fehlt: “Probleme der Lyrik”, Benns Poetik-Vorlesung, die er 1951 an der Uni Marburg […]