Conchita Cintrón (1922-2009)
••• Vor geschätzten 25 Jahren heiratete eine entfernte Verwandte von mir einen in Ost-Berlin frisch approbierten Kinderarzt aus Ecuador und ging mit ihm nach Quito. Das hatte eine pikante Note. Ihr Ehemann verdankte sein Studium in der DDR der Kommunistischen Partei Ecuadors. Sie selbst hatte Marxismus-Leninismus studiert und war aufgewachsen in Mecklenburg-Vorpommern, im Grenzgebiet zur BRD. Besuchen konnte man sie dort nur, wenn man zuvor einen Passierschein beantragt hatte. Und nun verließ sie das Kleine Land mit ihrem Mann in Richtung Südamerika.
Während eines der eher seltenen Besuche berichtete sie von den Stierkämpfen in Quito. Es schien ihr ein wenig peinlich zu sein, dass sie sich für das blutige Schauspiel begeisterte. Und ganz wie vermutet fielen die Reaktionen der Familienmitglieder verhalten aus: von ungläubigem Unverständnis bis zu offenem Protest. Ich neigte, mit damals vermutlich 12 Jahren, eher dem Protest zu. Vom Stierkampf wurde fortan nicht mehr gesprochen.
In den folgenden Jahren las ich Hemingway, stand aber dem offenbaren Phänomen Corrida weiter verständnislos gegenüber. Ich entdeckte die unzähligen Tuschzeichnungen mit Stierkampfszenen von Pablo Picasso, die ich sehr liebte und mit Nadeln in meinem Zimmer an der Tapete befestigte. Wenn es dämmerte, huschten Stiere, Picadores, Banderilleros und Matadore über die Wände, aber ich begriff noch immer nicht, was Picasso wie Hemingway am Stierkampf so ungemein fasziniert hatte. Dann sah ich eines Tages im Kino die Rosi-Verfilmung von »Carmen« (mit Julia Migenes und Placido Domingo). Die Ouvertüre war mit Bildern eines Stierkampfes unterlegt. Das Blut des Stieres, das vom zerstochenen Nacken rann, war sehr rot und sehr wirklich. Der Stier starb, aber mir erschien die gesamte Szene – ästhetisch. Ich nahm das Gefühl befremdet und nicht ohne eine gewisse Scham zur Kenntnis. Seit diesem Kinoerlebnis wollte ich – zumindest einmal in meinem Leben – einen Stierkampf live von der Tribüne aus erleben.
Ich habe der Herzdame davon erzählt. Und im Sommer 2003 überraschte sie mich mit Tickets für einen Flug nach Madrid und – Eintrittskarten für eine Corrida in der dortigen Arena. Es wurde ein Familienausflug. Unsere Tochter war noch nicht einmal ein Jahr alt und die Herzdame im sechsten Monat schwanger mit unserem Zweitgeborenen. Meine Schwägerin begleitete uns, um während des Stierkampfnachmittags unsere Tochter zu hüten.
Als ich im Hotel den Fernseher einschaltete, zappte ich direkt in eine Stierkampfszene. Ich glaube, es war eine Übertragung aus Valencia. Der Torero kämpfte elegant und tötete den Stier mit einem sauberen, blitzschnellen Stoß. Ich wünschte, es wäre in der Madrider Arena später ebenso zugegangen. Ich bin nicht mehr sicher, aber ich glaube, an diesem Nachmittag kamen fünf Stiere zu Tode. Zwei davon wurden von den Picadores bereits so zugerichtet, dass sie kaum noch stehen, geschweige denn kämpfen konnten, als schließlich der Torero mit der Muleta auftrat. Bei zwei Stieren gelang es den Matadoren nicht, sie im ersten, auch nicht im zweiten Anlauf zu töten, so dass sie mit einem Dolchstoß in die Stirn erlöst werden mussten.
Während des gesamten Kampfes presste die Herzdame meine Hand, und es flossen Tränen. Ich hatte noch nie so unmittelbar die Gegenwart des Todes erlebt. Das ließ den Puls rasen. Ich werde nie den Ausdruck echter Todesangst im Gesicht eines der Toreros vergessen. Ich hatte den Eindruck, er wäre der einzige unter den Matadoren an diesem Nachmittag, der sich selbst fürchtete. Er war allerdings auch der einzige, der wirklich kämpfte, der sich dem Stier tatsächlich aussetzte, so dass es zumindest den Anschein hatte, als hätte das Tier eine Chance, gegen den menschlichen Gegner zu bestehen.
An diesen Nachmittag in der Arena von Madrid musste ich gestern denken, als ich im Zug von Zürich nach München im »Spiegel« blätterte und unter der Rubrik »Gestorben« die Notiz über den Tod der Matadora Conchita Cintrón fand.
Bei einem ihrer letzten Kämpfe – 1949 im südspanischen Jaén – erlebte die in Chile als Tochter eines Puerto-Ricaners und einer Amerikanerin geborene Stierkämpferin den Höhepunkt ihrer ungewöhnlichen, über zehn Jahre andauernden Karriere: Als Frau war ihr dort [in Spanien] allein der Stierkampf zu Pferd gestattet, doch sie stieg zum Finale von ihrem Reittier ab, ließ den Stier am Leben und berührte ihn nur mit den Fingern am Nacken. Da raste zwar das Publikum, die „blonde Göttin“ aber wurde verhaftet. Nach ihrer Prunkhochzeit mit einem portugiesischen Adligen 1951 schrieb das Vorbild aller Matadoras ihre Memoiren. Conchita Cintrón starb am 17. Februar in Lissabon. [»Spiegel« 9/2009]
Ein wenig detaillierter ist die Geschichte im englischen Wikipedia-Artikel über Conchita Cintrón nachzulesen.
Am 4. März 2009 um 12:41 Uhr
Boah…. beeindruckende Geschichte über Conchita Cintrón!
Am 6. März 2009 um 12:54 Uhr
Wow, sehr schöne Geschichte..mir ist beim Lesen das Gruseln gekommen..Ich habe mich dem Stierkampf immer verweigert, aber vielleicht muss man wirklich mal dabei gewesen sein..Würdest du noch einmal hingehen? LG Jörn
Am 6. März 2009 um 13:21 Uhr
Schwer zu sagen. Mein Wunsch war ja, einmal einen guten Stierkampf live zu erleben. Das habe ich nach wie vor nicht und dieser Umstand würde dafür sprechen, es nochmals zu versuchen. Aber wenn es dann wieder nur ein »Gemetzel« ist? Und letztlich: Ist es das nicht ohnehin, jedes Mal?
Also: Ich entscheide diese Frage, wenn sie sich einmal akut stellen sollte.
Am 6. März 2009 um 15:14 Uhr
Was mich wirklich entsetzt hat, war, wie ungleich der Kampf war. In meiner Vorstellung war ein Stierkampf immer gefährlich. Tatsächlich war er einfach nur unfair, ungerecht und blutig.
Aber wenn man einmal Blut geleckt hat… ;)