Alle Eisenbahnen dampfen in meine Hände,
Alle großen Häfen schaukeln Schiffe für mich,
Alle Wanderstraßen stürzen fort ins Gelände,
Nehmen Abschied hier; denn am andern Ende,
Fröhlich sie zu grüßen, lächelnd stehe ich.
Könnt ich einen Zipfel dieser Welt erst packen,
Fänd ich auch die drei andern, knotete das Tuch,
Hängt es auf einen Stecken, trügs an meinem Nacken,
Drin die Erdkugel mit geröteten Backen,
Mit den braunen Kernen und Kalvillgeruch.
Schwere eherne Gitter rasseln fern meinen Namen,
Meine Schritte bespitzelt lauernd ein buckliges Haus;
Weit verirrte Bilder kehren rück in den Rahmen,
Und des Blinden Sehnsucht und die Wünsche des Lahmen
Schöpft mein Reisebericht, trinke ich durstig aus.
Nackte, kämpfende Arme pflüg ich durch tiefe Seen,
In mein leuchtendes Auge zieh ich den Himmel ein.
Irgendwann wird es Zeit, still am Weiser zu stehen,
Schmalen Vorrat zu sichten, zögernd heimzugehen,
Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein.
Gertrud Kolmar, aus: „Gedichte“
Lizenzausgabe Suhrkamp Verlag 1996
© Kösel-Verlag, München 1980
••• Gedichte gibt es, die sind wie Kisten voll Blei, kaum zu heben, ohne den Rücken schmerzhaft zu spannen. So geht es mir mit den Gedichten von Gertrud Kolmar. Doch bei aller Schwere schiesst aus jeder Zeile eine so unbändige Lebenskraft, ein Hunger, ein Durst, unstillbar.
PS: Hat einer der geneigten Leser eine andere Kolmar-Ausgabe zur Hand? Ich bilde mir ein, es müsste Weiher statt Weiser heissen. Und wenn nicht, wäre ich ratlos, was mit Weiser gemeint ist. Für sachdienliche Hinweise wäre ich dankbar.
Am 18. April 2007 um 01:30 Uhr
Wegweiser?
Am 18. April 2007 um 14:29 Uhr
Solche Gedichte müssen der Gradmesser für jeden unbekannten Dichter sein und wir sind alle unbekannt und zwar mit recht
Am 20. April 2007 um 12:45 Uhr
Wegweiser? Das könnte natürlich gemeint sein. Aber so recht mag ich daran nicht glauben. An dieser Stelle ist es auf jeden Fall widerborstig.
Am 22. April 2007 um 00:17 Uhr
[…] Noch einmal Gertrud Kolmar mit einem Gedicht, das wohl am besten illustriert, was ich zuvor über sie schrieb. Seit Minuten klingt mir Patricia Kaas aus dem musikalischen Gedächtnis mit […]
Am 19. August 2009 um 12:54 Uhr
[…] Gertrud Kolmars Bild vom “Sand in den Schuhen Kommender” hat Nelly Sachs zu verschiedenen Adaptionen inspiriert. Die vielleicht berühmteste Variation […]
Am 8. August 2016 um 02:16 Uhr
In einem Buch aus dem Arche-Verlag heißt es auch „Weiser“, also offenbar kein Druckfehler. Laut Duden ist ein Weiser gemeint, also jemand, der weise ist. Es klingt aber wirklich so, als würde der Ich-Erzähler still am Weiser eine Entscheidung treffen, nämlich diejenige heimzukehren. Vielleicht eine doppelte Bedeutung?! Am Wegweiser eine weise, richtungsweisende Entscheidung treffen :-)