Dies alles aber in einer Zeit, in der ich weniger denn je an eine romanbelletistische Zukunft, sondern in der ich glaube, daß poetische Zukunft allein noch die Lyrik haben wird; das liegt einfach daran, daß es keine angemessene Übertragungsform für Lyrik in andere (Neue) Medien gibt, während dem Roman längst vom Spielfilm (den objektiven Bildern nämlich) der Rang abgelaufen wurde; auch Zeit spielt hierbei eine hervorstechende Rolle: Zeitmanagement. Man kann das beklagen, ja, doch gilt Hegel: Im Zweifel für die Tatsachen. Ich weiß, daß ich Widerspruch ernten werde: Nur zu.
Alban Nikolai Herbst im Arbeitsjournal
••• Auch wir – die Herzdame und ich – sind Film-Junkies und schauen seit langer Zeit erheblich mehr Filme an, als wir Bücher lesen. Die Frage, ob der Film dem Roman bereits den Rang abgelaufen habe oder aber bald ablaufen könnte, habe auch ich mir schon oft gestellt. Und die Antwort, die ich mir selbst als Autor gegeben habe und nach wie vor gebe, lautet: Jein.
Ja, der erzählende Roman von »Don Quijote« über »Buddenbrooks« oder »Anna Karenina« bis zu den letzten Deutschen Buchpreisträgern »Mittagsfrau« und »Turm« (die Liste ließe sich endlos fortsetzen) mag sich erübrigen, weil sich tatsächlich in einer filmischen Umsetzung eine »angemessene Übertragungsform« ins Neue Medium finden lässt. Die Autoren graben sich und ihrem Genre heute durch den bewussten, intensiven Flirt mit der Verfilmbarkeit selbst das Wasser ab. Die so eventuell nachlassende Bedeutung des Romans liegt jedoch nicht etwa an einer Überlegenheit des Neues Mediums Film, sondern vielmehr daran, dass die Autoren bequem geworden sind und heute kaum Versuche unternommen werden, das Genre des Romans weiterzuentwickeln, und zwar in einer Weise, die dem Buch gegenüber dem Film eben doch eine nicht übertragbare Eigenheit zurückgibt.
Im offensichtlichen Ausweg – Rückzug in die Lyrik als Urland der Dichtung – sehe ich eine künstlerische Kapitulation vor der größeren Aufgabe: für den (erzählenden oder auch nicht erzählenden) Roman neue Ausdrucksmöglichkeiten und Formen zu finden. In kaum einem Jahrhundert hat der Roman derartige künstlerische Fortschritte gemacht wie im letzten. Sollten all die Bemühungen von Simon, Woolf und Joyce (um nur drei von vielen zu nennen) völlig vergeblich gewesen sein? Nein. Ich fürchte vielmehr, dass es heute lediglich an Autoren-Persönlichkeiten fehlt, die den künstlerischen Antrieb spüren und ihm nacharbeiten, in ihrer angestammten Domäne, der Sprache und dem gedruckten Buch, dem Film etwas Originäres entgegenzusetzen.
Seit meinem ersten Roman-Versuch (1987) beschäftigt mich die Frage, wie Prosa aussehen muss, die nur in Sprache und im Medium des gedruckten Buches ihre volle intendierte Wirkung und künstlerische Tiefe erreicht. Damals sah ich im Film keine »Konkurrenz«. Ich kam von der Lyrik und der womöglich verklärenden Ansicht, dass jegliches künstlerische Werk nur dann wahrhaftige Kunst sei, wenn es die einzig vollständig angemessene Ausdrucksform für »etwas« gefunden habe. Das mag eine irrige Ansicht sein, aber sie kann einen Weg weisen.
Betrachten wir an dieser Stelle nur vier Zutaten, die uns zur Verfügung stehen: Sprache (in ihrer womöglich zu Dichtung destillierten Form), Narration, Perspektive und die materiellen Gegebenheiten des Mediums Buch. Der heutige Fetisch, nämlich das pure Geschichtenerzählen, ist problemlos übertragbar ins Medium Film und damit künstlerisch am wenigsten von Interesse. Sprache lässt sich für den (Ton-)Film »stehlen«. Das disqualifiziert sie noch lange nicht als Experimentierfeld für einen »neuen« Roman. Das größere und wesentliche Potential sehe ich aber bei Perspektive und dem Medium Buch.
Die Perspektive(n) des Erzählens sind wahrscheinlich der Schlüssel. Denn sie attackieren das Konkurrenzmedium bei seinem Hauptmittel, dem Bild. Ich will den Gedanken nur anreißen: die »Stilübungen« von Raymond Queneau zeigen deutlich, dass ein »objektives« Filmbild oft nur zu Unrecht vorgibt, an sich eine Bedeutung (Wahrheit?) zu haben. Mit einem Bild kommt man nicht hinter das Bild, mit der Sprache hingegen schon. Wie viele Hüte mit Kordel führt Queneau vor, wo die Kamera nur einen einzigen Hut sehen könnte! Das Bild, das Objektivität vorgaukelt, lügt. Via Sprache lassen sich ungezählte subjektive Perspektiven einnehmen. Der Roman könnte den Beweis antreten, dass die Bilder lügen. Der Roman kann vorführen, was die Zuschauer eines Films kaum merken: dass es nämlich nicht nur einen Film gibt, sondern so viele Filme wie Zuschauer – wie es auch außerhalb des Kinosaals so viele Realitäten gibt wie erlebende Subjekte. Daher meine Entscheidung für die monologische Methode mit mehreren Erzählern.
Und zur Form? Denke ich an die »Leinwand«, so behaupte ich, dass hier keine Verfilmung und auch kein Hörbuch die volle Dimensionalität des Buches realisieren kann. Nur das Buch lässt wirklich alle Rezeptionswege offen, die vorgeschlagen werden. Nur als Buch sind alle diese Wege gleich wahrscheinlich.
Ich möchte hier nicht behaupten, dass ich selbst nicht an der Krankheit litte, die ich bei den genannten Kollegen diagnostiziere. Auch will ich nicht behaupten, dass ich mit dem »Anderen Blau« oder der »Leinwand« das Roman-Genre weiterentwickelt und gegen die Konkurrenz des Films abgehärtet hätte. Darüber sollen Leser, Kritiker etc. debattieren. Aber ich habe den Versuch unternommen. Und in diesem Versuchen bin ich Überzeugungstäter. Ich sehe eine Zukunft für den Roman. Aber er muss anders aussehen, als wir ihn heute vor uns haben.
Am 4. Januar 2009 um 17:55 Uhr
man mag doch erst mal klären, was man jeweils für einen „roman“ hält. diese bezeichnung allein ist ja nur ein hilfskonstrukt für eine form, die sich in kein genre mehr einordnen lässt, weil sie übergreift. heute spricht un debattiert man über die „offene form“ des romans, aber der roman – das, was man im grunde als roman begreift – verstand sich selbst bereits stets als offene form. die präposition kann also weg. vielmehr muss man behaupten, dass es heute tatsächlich kaum mehr „romane“ gibt, nachdem sich der lateinamerikanische „boom“ und der nouveau roman von selbst erledigt haben. bücher werden nur so genannt – aus markttechnischen gründen. eine form des romans gibt es nämlich nicht, oder sagen wir: der roman war schon immer die problematische form an sich.
die „belletristik“ bezeichnet ja nun genau das, was man heute allgemein als roman annimmt. im besten falle aber reflektiert der roman über sich selbst und beteiligt sich an einer epistemologischen debatte. das fürt ihn ja gerade über die erzählung (die ebenfalls nicht klar umrissen werden kann) hinaus. die idee einer „dicken“ erzählung auf breitwandniveau hat noch eigentlich nichts mit dem grundcharakter eines romans zu tun.
interessant finde ich herbsts anssatz, weil er eigentlich auch sagt, dass der „poetische roman“, also der „echte roman“ sich immer primär an der sprachkunst ausrichtet und nicht auf das „erzählen“ zielt. und das betrifft mich zb. direkt. ich habe den „uhrenträger“ eine erzählung genannt. ich hätte ihn durchaus als einen roman deklarieren können. einen echten. eben weil es darin in erster linie um stimmung und poetische gestaltung geht, um das lyrische moment innert der prosa. wenn ich also von der lyrik zugunsten der prosa weiche, dann nur, um ein bild anders zu transportieren als in rein komprimierter form. da ich in erster linie, gerade wie du es auch von dir sagst, lyriker bin, kann ich die prosa nicht prosaisch gestalten, ohne dabei an die poesie zu denken. mir wäre es lieb, wenn es eines tages nicht mehr um die gattungen ginge, sondern eben um besagte poesie. ich sehe zwar nicht, dass die lyrik allein überlebt, aber ich sehe – und erwarte, dass die poesie der sprache (denn es gibt sie ja auch in allen anderen künsten), das szepter innerhalb der literatur wieder übernimmt. es wäre ja fast schon einen freudenschrei wert.
Am 4. Januar 2009 um 19:40 Uhr
Vielleicht sollten wir uns, um es uns im Gespräch einfacher zu machen, auf den Begriff des Romans verzichten. Oder uns darauf einigen, den Begriff als reine Variable für »längere Prosa« oder »größere Prosa« zu nutzen. Oder einen neuen, noch nicht so aufgeladenen und missbrauchten Begriff prägen.
Es ist mir so herzlich wurscht, ob Mayröckers Bücher Romane, Erzählungen oder sonstwas sind, solange es sie nur gibt.
Das Thema der Sprache habe ich oben bewusst kurz abgehandelt. Uns ist wohl allen klar, dass es zentral bleibt. Gestaltung ist ein schön weiter Begriff, den ich gern aufnehme und unter dem sich oben über Perspektive Gesagtes gut einordnen lässt.
Auf das Narrative zu verzichten – im Sinne einer Erzählverweigerung – scheint mir hingegen nicht zielführend. Vielmehr würde ich es auch gern unter dem Überbegriff der Gestaltung eingeordnet sehen. So wie das Bild im guten Gedicht (also wirkliche Dichtung) über sich hinausweist, weisen auch die wirklich großen Geschichten über sich selbst hinaus. Erzählt werden sie nicht um des Erzählens oder ihrer selbst willen, sondern die Geschichte hat Funktion als poetisches Gestaltungselement. Dann würde lediglich erzählt, was Bedeutung trägt und transportiert – die konsequente Abschaffung des Schwatzens.
Am 4. Januar 2009 um 20:08 Uhr
da habe ich keinen einwand. lediglich: erzählverweigerung – das scheint mir ebenfalls eine worthülse zu sein, die nur missverstanden werden kann, auch wenn man meint, zu glauben, was dahinter steckt. man könnte ja jetzt auch einem gedicht vorwerfen, es verweigere sich der erzählung. das tut man freilich nicht, weil man dem gedicht zugesteht, dass es andere bereiche ausleuchtet (wenn auch nicht nur – es gibt, wie wir wissen, durchaus erzählende gedichte).
auch prosa ist nicht zwingend erzählerisch. was der erzählung aber eigen ist: sie rührt aus dem mündlichen. damit entstehen aber bereits die probleme der räumlichkeit und der zeit. probleme, die es innert der „poetischen“ form nicht eigentlich gibt, die vielmehr durch eine realitätsbezogene denkungsart erst entstehen. (dabei ist es unerhebliche, ob es sich um ein märchen oder eine naturalistische schilderung handelt. bestes beispiel hier: die linearität, die ja das „erzählen“, ergo das „auf-zählen“ meint).
Am 5. Januar 2009 um 09:27 Uhr
„die materiellen Gegebenheiten des Mediums Buch“ steht da oben
Und wenn sich diese ändern, und sie ändern sich, wenn auf den gleichen Datenträger jedwede Form passt? Wie hier im Blog schon lange? Wenn sich alles mischen könnte, wenn sich alles mischen wird? Die Formen werden miteinander tanzen. Irgendwann. Wie sich inzwischen die Staffelei längst mit der Videokamera paart.
Warum nicht mit der Kamera erzählen UND die Sprache singen. Erzählen UND dichten.
Die neuen Medien, besser die neuen Datenträger und Abspielgeräte stellen auch Neue Formen zur Verfügung. Wenn man sie denn nützte.
Das wird das Neue sein. Das wirklich Neue. Crossover. Die Dinge mischen sich.
Poetische Formen werden erstehen, die Musik endlich wieder umfassen, Tanz, Theater, Film, Lyrik, romanhaftes Lesen, sehen, hören, erzählen.
Auf einem Datenträger oder vernetzt auf vielen.
Der Rest , das sind Rückzugsgefechte, Übergänge..
Am 5. Januar 2009 um 09:56 Uhr
Es mag sein, dass dergleichen im Entstehen ist. Im Moment haben wir das Buch aber noch – wofür ich dankbar bin und dass ich liebe. Also denke ich darüber nach, wie ich Prosa-Dichtung explizit für dieses mir liebe Medium machen kann.
Das von Dir geschilderte Crossover hört sich für mich gerade nach Ersetzung
der Dichtungdes Buches durch das Varieté an :-)