••• Ich habe durchgehalten und alle 550 Seiten von »Im Schatten des Windes« von Carlos Ruiz Zafón gelesen. Als ich das Antichrist-Zitat brachte – grad erst um Seite 120 herum – war ich schon im Grübeln: Was treibt der Mann eigentlich und warum? Zu Ende gelesen habe ich dann aus rein technischem Interesse. Was macht heute einen Millionen-Seller aus?
Zunächst war ich angenehm überrascht. Zafón beherrscht sein Handwerk, schwingt sich – wenn auch nur auf den ersten ca. 150 Seiten – immer wieder zu sprachlich wunderbaren Passagen auf. Die Auftaktidee ist wundervoll, die »Bibliothek der vergessenen Bücher«. Barceloneser Antiquare bewahren in ihr je ein Exemplar aller Bücher auf, die vergessen wurden, verdient oder unverdient. Der Protagonist darf sich, als sein Vater ihn in das Geheimnis der Bibliothek einweiht, ein Buch aussuchen, um es zu lesen und so dem Vergessen zu entreißen.
Zafón legt die Plotfäden geschickt aus, wechselt durch verschiedene erzählerische Tricks sogar mehrfach über längere Strecken die Erzählperspektive. Alles hätte gut sein können. Aber mich verließ der Eindruck nicht, ein Kinderbuch zu lesen. Anders konnte ich es zunächst nicht ausdrücken. Warum, fragte ich mich wieder und wieder, wird mir das alles erzählt? Und ich habe vor allem deswegen zu Ende gelesen, um dahinter zu kommen, wie dieser Eindruck entstehen konnte.
Nach etwa einem Drittel Windschatten ist es mit der sprachlichen Schönheit vorbei. Zafón pusht nur noch den Plot voran. Und dem mochte ich spätestens dann nicht mehr folgen, als sich herausstellte, dass die jugendlichen Liebenden, ohne es zu ahnen, Geschwister waren… Seufz.
Im letzten Drittel wurde mir endlich klar, was ich am meisten vermisste: Zafóns Buch hat einen verzweigten, nicht unspannenden Plot, aber es hat kein Thema. Es gibt keinen überzeugenden Erzählanlass, so dass man wohl unterstellen muss, dass der Anlass der Geschichten allein das Geschichtenerzählen ist, Zeitvertreib. Es ist gefällig, pulp fiction auf hohem handwerklichen Niveau. Innerhalb des Genres ist Zafón ein Meister; aber ich mag dieses Genre nicht. Das kann ich nun aber freilich nicht Zafón anlasten.
Am 30. Dezember 2008 um 18:23 Uhr
Ich stimme Ihnen in vielen Punkten zu, doch bei dem Vermerk, ein Thema würde dem Buch fehlen, stockte ich. Einsamkeit, Verlust, unerfüllte Hoffnungen – das sind für mich die Themen des Buches, die auch von der Atmosphäre wunderbar unterstrichen werden.
Gut, dass die beiden Liebenden Geschwister waren, das könnte auch der Inhalt der allabendlichen Soap sein, aber andererseits… warum nicht? Für mich bleibt es ein wunderbares Buch ;-)
Am 30. Dezember 2008 um 18:53 Uhr
Ich bin heute lax. Ich sollte ein wenig mehr über meine persönlichen Beweggründe schreiben, so auf die Frage des »Themas« zu »pochen«. Ich werde das in den nächsten Tagen nachholen.
Das sind für mich allenfalls Motive, von denen es entlang des Plots sicher viele gibt. Ein wirklich ausgestaltetes Thema kann ich darin nicht erkennen. Dafür fehlt die Tiefe. Zafón spielt Saiten an. Wirklich ernst macht er kaum einmal. Nehmen wir nur einmal das Motiv der Folter und halten neben das Saiten-Anspielen bei Zafón die wirklich tiefgehende Gestaltung als Thema in Coetzees »Warten auf die Barbaren«.
Genau diese Unterschiede haben mich bei der Lektüre beschäftigt, dieses Genre-Spezifische. Natürlich kann man Zafón gefahrlos lesen. Man tut sich damit nichts Furchtbares an. Unterhaltend ist der Roman allemal. Aber mehr – im Sinne einer besonderen künstlerischen Qualität – ist es nach meinem unmaßgeblichen Empfinden nicht.
Weitere Fragen schließen sich an: Ist die mangelnde Tiefe gerade eine notwendige Zutat für einen Millionen-Seller? Habe ich den literarischen Wert lediglich übersehen? Gibt es neben den Verkaufszahlen noch einen triftigen künstlerischen Grund, dass ein solches Buch bei Suhrkamp Schwerpunkttitel des belletristischen Programms ist? Etc. pp.