Ich hatte mich auf den Umzug gefreut

/Nina/ Ich hatte mich auf den Umzug gefreut, auf die neue Wohnung, mein erstes eigenes Zimmer. Wer weiß, wie viele Male ich es in Gedanken schon eingerichtet habe, auf immer andere Weise, wie lange ich schon davon träume, in dieses Zimmer einzuziehen.

Ich erinnere mich gut, wie oft sich meine Vorstellungen davon gewandelt hatten im Laufe der Zeit. Einmal stellte ich mir alte Möbel vor, ein anderes Mal ganz moderne, einmal Tapeten ohne Muster, ein andermal mit. Oder ich nahm mir vor, die Wände mit geometrischen Figuren zu bemalen. Ich hatte sogar überlegt, welche Bilder man kaufen könnte und lange nach etwas Passendem gesucht. Gekauft habe ich nichts. Vielleicht, dachte ich dann immer, würde es ja ein dunkles Zimmer sein, in dem so ein Bild gar nicht zur Geltung käme. Aber vorgestellt, vorgestellt hatte ich mir mein Zimmer unzählige Male. Und immer hatte es ein anderes Gesicht.

Platz mußte sein für das Klavier und die Bücher. Mehr wollte ich gar nicht. Es würde phantastisch sein. Ich könnte üben, ohne daß ständig Türen klappten, jemand umherlief, Christa oder der Schauspieler, Geschlurfe, Geflüster, das einem den Nerv tötet, alle Konzentration raubt.

Früher ging es ja, als ich noch mit Christa allein war. Sie hat in der Küche gesessen und gearbeitet, wenn ich übte. Das machte ihr nichts. Aber seit der Schauspieler bei uns wohnt, ist es schlimm. Er heißt Henry, und sie schläft mit ihm. Sie lieben sich, sagen sie. Zumindest halten sie einander fest, seit sie sich kennengelernt haben. Das war vor einem halben Jahr. Vielleicht ist es auch ein wenig länger her.

Christa war zu einer Premiere ins Theater gefahren. Sie sollte eine Rezension schreiben. Das Stück kam nicht gut weg, aber einer der Schauspieler. Den fand sie sehr überzeugend in seiner Rolle. Nach der Vorstellung hat sie sich noch mit ihm unterhalten und muß ihn wohl auch sehr beeindruckt haben. Jedenfalls kam sie erst nach Mitternacht nach Hause.

Ich hatte mich im Nachthemd in die Küche gesetzt, aus dem Fenster gestarrt und gewartet. Als schließlich ein Taxi vorm Haus hielt, stieg schnell ein Mann aus und half Christa aus dem Auto. Es war nicht der Taxifahrer. Vielleicht ein Kollege, dachte ich. Sie sprachen ziemlich laut und lachten. Er brachte sie noch zur Haustür. Jetzt werden sie sich umarmen, dachte ich. Sicher wird er versuchen, sie zu küssen, dachte ich auch. Denn daß sie nach dem Stück noch irgendwo ausgewesen sein mußten, war doch klar – so ausgelassen beide und er so galant.

Vielleicht, dachte ich, fragt er auch, ob er nicht noch einen Moment mit hinaufkommen könne. Diese Szene sah ich richtig vor mir. Und sie würde sagen: meine Tochter… Und ihn vertrösten.

Ich ging ins Bett. Kurz darauf hörte ich Christa die Treppe heraufkommen. Sie hatte Schwierigkeiten beim Aufschließen. Bestimmt haben sie Wein getrunken, dachte ich. Als sie im Korridor Licht machte, rollte ich mich im Bett zusammen und stellte mich schlafend. Sie würde sicher nach mir sehen, und ich wollte nicht mit ihr reden müssen, wenn sie getrunken hatte. Ich schlief auch gleich ein und hörte sie nicht mehr kommen.

Am nächsten Morgen arbeitete sie schon, als ich aufstand. Die Rezension mußte fertig werden. Sie hatte sich Milch aufgesetzt. Also hatte ich recht gehabt, dachte ich, sagte nur Guten Morgen und verschwand im Bad. Wir sprachen nicht über den Abend. Bestimmt weiß sie bis heute nicht, daß ich sie beobachtet habe.

Ein paar Tage später kam er das erste Mal zu uns. Christa stellte uns einander vor, und ich sagte: Ich glaube, ich kenne ihn schon von irgendwo her. Aber sie hat auch das nicht verstanden.

Er hat mich gleich geduzt und meinte, ich solle ihn Henry nennen. Mir kam das merkwürdig vor, aber ich sagte nichts weiter. Für mich ist er nur „der Schauspieler“. Denn er spielt alles, sogar sich selbst.

Ich weiß nicht, was Christa an ihm findet. Er redet immer so laut, so gut artikuliert, wie auf der Bühne. Man weiß nicht, ob er nicht vielleicht eine Rolle übt, wenn er mit einem spricht. Wenn er Nina zu mir sagt, kommt es mir vor, als deklamiere er mit Genuß vier Buchstaben, irgendein Wort, einen Begriff, nur nicht meinen Namen. Manchmal tut er mir leid. Er kann scheinbar überhaupt nicht natürlich sein. Oder ist das vielleicht seine Natur? Dann frage ich mich erst recht, was sie an ihm findet. Vielleicht ist er ein guter Liebhaber.

Er war dann immer öfter bei uns und blieb auch über Nacht. Christa und er schliefen im Wohnzimmer auf der Couch. Zu zweit muß es dort ganz schön eng sein. Aber das ist ja gut so und gefällt ihnen. Manchmal bin ich nachts aufgewacht und habe sie gehört. Es war, als würde ich daneben stehen. Er stöhnte laut, und Christa schien leise zu weinen. Am Ende klang es wie ein Aufschrei. Die Stille danach war bedrückend.

Einmal habe ich es ihr gesagt: Ich habe euch gehört heute nacht. Sie ist doch tatsächlich rot geworden. Aber sie hat gelächelt, mich umarmt und gesagt: Ich liebe ihn, Nina, ich liebe ihn wirklich.

In diesem Moment fühlte ich mich nicht wie sechzehn, sondern wie ein ganz kleines Mädchen in Muttis Armen. Es war schön dort, warm. Wir waren uns nah, und ich hätte sie am liebsten fester und fester gedrückt, sie gar nicht mehr fortgelassen. Wie ein kleines Mädchen. Dabei hatte sie zum ersten Mal seit langem ganz offen mit mir gesprochen, wie von Frau zu Frau, und ich glaubte ihr, was sie sagte. Ich glaubte ihr wirklich. Nur verstehen konnte ich es nicht.

Der Schauspieler hat mir noch nie in die Augen gesehen. Wenn er mit mir spricht, sucht sein Blick irgendeinen Punkt im Raum, über meinem Kopf oder ganz woanders. Doch in die Augen hat er mir noch nie gesehen. Immer wirkt er unehrlich, alle Rede und jede Geste einstudiert, Routine, abrufbar. Schon seit der ersten Nacht, als er Christa mit dem Auto nach Hause gebracht hat, mag ich ihn nicht. Aber ich hoffe immer, daß sie es nicht merkt. Sie soll glauben, daß ich froh bin über ihr Glück.

Seit zwei Monaten ist er fast täglich da, auch tagsüber, wenn Christa in der Redaktion ist. Er geht im Wohnzimmer auf und ab und lernt Rollen. Wenn ich üben will, geht er in die Küche. Aber er spricht so laut, daß ich es deutlich durch die Tür höre. Ich kann mich nicht konzentrieren, es ist schrecklich. Manchen Satz spricht er zehnmal und öfter, immer wieder.

Meist gehe ich dann aus, besuche Anja oder irgendwen anderen. Oder ich laufe einfach durch die Straßen. Wenn Christa kommt, unterhalten sie sich. Sie küssen sich, und man sieht ihre Zunge, flink wie die einer Schlange. Das regt mich wahnsinnig auf. Vielleicht nur, weil sie meine Mutter ist und ich weiß, daß er heimlich die Augen öffnet, während sie ihn küßt. Ich will ihnen nicht zusehen müssen. Ich komme mir überflüssig vor und mache in der Küche Hausaufgaben oder lese.

Er ist zärtlich zu ihr, denke ich. Dabei bin ich immer froh, wenn ich ihm nicht die Hand zu geben brauche, wenn wir uns Guten Tag sagen. Er hat so einen festen Händedruck. Fast tut er mir weh. Und die Berührung ist mir unangenehm, ohne daß ich genau wüßte warum.

Abends ist er im Theater. Dann setze ich mich ans Klavier und beginne ein paar Übungen. Doch meist höre ich schon nach kurzer Zeit wieder auf. Mir tut der Kopf weh. Die Hände wollen nicht. Es ist einfach zu spät.

Warum ist er tagsüber nicht in seiner Wohnung? habe ich Christa gefragt.

Er sagt, er liebt die Atmosphäre hier, dieses Zimmer. Stell dir vor: Ich sei anwesend, selbst wenn ich nicht hier bin. Das inspiriert ihn.

Aber ich kann nicht üben!

Er bemüht sich um eine größere Wohnung, sagte sie: Damit wir zusammenziehen können und du endlich ein eigenes Zimmer bekommst, in dem du ungestört bist.

Natürlich, dachte ich: Sie wollen zusammen bleiben, in eine Wohnung ziehen, vielleicht sogar heiraten. Aber ein eigenes Zimmer, das würde phantastisch sein. Ich könnte in Ruhe üben, ohne daß ständig Türen klappten, jemand umherlief, Christa oder der Schauspieler, Geschlurfe, Geflüster, das Gebetmühlengeklapper der immer und immer wieder geübten Sätze von Henrys Rollen.

Ich hatte mich auf den Umzug gefreut, schon wegen des Zimmers.

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