Seht ihr Dichter der Welt und insbesondere ihr heutigen deutschen Poeten immer noch nicht ein, daß die Handhabung der Sprache und des Wortes nicht dazu da sind, um unter euresgleichen fortwährend nur künstlerisch damit zu experimentieren, während rundherum um euch eine unheilvolle brennende Welt dem sicheren Verderben entgegenblüht? Empfindet denn nie einer von euch, daß der Dichter wie kein anderer dazu verpflichtet ist, ein beständiger Mahner des öffentlichen Gewissens, der Schöpfer von Klarheit und Vernunft und der Erwecker des Guten und Schönen im Menschen zu sein?
Oskar Maria Graf (1894-1967)
••• Mit diesem Gedanken – wenn auch anders gemünzt – wurde ich während meiner Schulzeit geimpft. Die künstlerische Staatsdoktrin des »sozialistischen Realismus« (Der Wikipedia-Beitrag dazu ist sehr lesenswert, auch jener zum damit im Zusammenhang stehenden »Formalismusstreit« in den 1950er Jahren in der DDR.) Die gesellschaftspolitische Verpflichtung des Künstlers und das Verständnis eines jeden Kunstwerks als Mittel der Erziehung und Bildung der »Massen« spielte dabei eine zentrale Rolle.
Natürlich bestimmten die Werke der Sozrealisten unseren Deutschunterricht. Ich kann mich der heute oft vertretenen Ansicht nicht anschließen, dass es sich bei den Romanen bspw. einer Anna Seghers um ideologischen Kitsch gehandelt haben soll, der heute bestenfalls als »Trash« noch von Interesse sei.
Als ich Mitte der 80er Jahre ernsthaft mit ästhetischen Überlegungen in Berührung kam, taute die Doktrin bereits spürbar. Unter uns Jungen waren immer weniger Anhänger der Staatsästhetik zu finden. Viele waren aus Überzeugung »bürgerlich dekadent« und orientierten sich schon allein aus gewöhnlicher jungendlicher Opposition an ganz anderen Stilen und Ästhetiken.
Geblieben ist mir von dieser Sozialisation dennoch etwas. Ich denke heute noch, dass Kunst eine Aufgabe hat. Ich interpretiere diese Aufgabe heute nicht gesellschaftspolitisch. Die Idee ist eher von mystischen Ansichten überlagert, geht also beispielsweisweise in die Richtung des »Kunstwerks als Tikkun«, wie ich es Nathan Bollag in der »Leinwand« in den Mund lege:
Seine Leidenschaft gründete darin, dass er alle Künstler für dem Ewigen dienstbare Geister hielt, sobald sie etwas von unverwechselbarer Tiefe und Schönheit schufen. Dabei spielte es kaum eine Rolle, ob es sich um Musik, ein Bild, einen besonders geschliffenen Stein oder ein Gedicht handelte. In jedem wirklichen Kunstwerk sah er das Angesicht des Ewigen aufschimmern; und so war Kunst für ihn Gottesdienst und der Künstler Gehilfe des Ewigen im sich ständig erneuernden Werk der Vollendung der Welt.
Schließt diese Idee auch l’art pour l’art aus, ist sie doch meilenweit von der alten Doktrin entfernt. Sie stellt den einzelnen Menschen, das Seelenleben, das Innere in den Mittelpunkt, keine wie auch immer geartete »Masse«. Der Tikkun kann »reparieren«, was der Einzelne oder »die Masse« beschädigt hat. Eine »Therapie der Wirklichkeit«? Vielleicht. (Darüber müsste man gelegentlich genauer nachdenken.)
Am 13. August 2009 um 23:14 Uhr
[…] Wohl wissend, wie schlecht es um die Reputation der Romantik in der DDR stand, in der der Sozialistische Realismus des »Bitterfelder Weges« zur künstlerischen Staatsdoktrin erhoben war, hielt er in der Ost-Berliner Akademie einen […]