Anna Seghers (1900-1983)
••• Das Verhör-Kapitel zu schreiben, macht einen Heidenspaß. Ich habe zunächst nur den reinen Dialog skizziert, ihn dramaturgisch geordnet und in Sektionen unterteilt. Ich steige ein mit einer Ouvertüre: Variationen über das Thema Angst. Dann beschreibe ich die Örtlichkeit, bevor die Vernehmung völlig harmlos beginnt.
Ein derart langer Dialog ist eine Katastrophe für mich. Beginnt man, den Thesaurus zu plündern, um Synonyme für sagen, fragen und antworten zu sammeln, steht man schon mitten im Krampf. Einige Tricks habe ich probiert, die – ich habe schon 4/5 des Kapitels fertig – wunderbar funktionieren.
- Englischer Dialog. Ich nenne das mal so, weil ich diese Variante nur aus englischsprachigen Büchern zu kennen meine. Man verzichtet auf »sagt er«, »antworte ich« etc., wechselt zur Kennzeichnung der Person lediglich die Zeile. Der Dialog muss ja ohnehin auch ohne die Zuweisung an einen Sprecher funktionieren. Sonst wäre etwas faul.
- Ich führe einige Motive ein, bspw. einen Bleistift oder ein Aufnahmegerät, die sich im Laufe der Vernehmung immer wieder aufnehmen lassen, um kurze erzählerische Passagen einzustreuen und indirekt die Stimmung der Personen zu beschreiben.
- Wenn es sich anbietet, wechsle ich für eine Frage oder Antwort in die indirekte Rede.
- An den dramaturgisch gesetzten Schnitten im Dialog (jeweils eine überraschende Wendung, die gegenüber dem bisherigen Verlauf eine Steigerung bringt) erlaube ich mir längere erzählte Rückblenden (Wechsler).
Der Bleistift ist eine Reminiszenz an Anna Seghers, eine große deutsche Erzählerin, die nach ihrer Rückkehr aus dem Exil in Mexico in der DDR lebte. Ihre letzten Jahre verbrachte sie in dem Altenheim in Friedrichshagen, in dem ich später als Nachtpförtner arbeitete. Ich habe immer bedauert, sie nicht mehr dort getroffen zu haben. Zu gern hätte ich einmal mit der alten Dame die Nacht durchgeplaudert.
In ihrem Roman »Das Siebte Kreuz« beschreibt sie die Flucht von sieben Häftlingen aus dem KZ Buchenwald Westhofen. Sieben Bäume auf dem Appell-Platz – ich glaube Platanen – werden geköpft. Wird einer der Entflohenen KZler gefangen, landet er an einem der Bäume. Auch in diesem Buch gibt es eine Verhörszene, die natürlich, wie in einem KZ nicht anders zu erwarten, nicht ohne Gewalt abgeht. Der Bleistift taucht als durchgängiges Motiv in diesem Kapitel auf.
Eine sehr gute Deutsch-Lehrerin hat uns, als wir das Buch in der Schule lasen, auf dieses Motiv hingewiesen. Und an diesem Beispiel habe ich schlagartig begriffen, was den Unterschied ausmacht zwischen Geplapper und meisterhaftem Erzählen.
Mein Bleistift ist nicht der gleiche Bleistift wie bei Anna Seghers. Ihn dem Vernehmer Ben-Or in die Hand gegeben zu haben, sehe ich also nicht als Diebstahl, sondern als Verneigung vor einer großen Erzählerin, von der ich viel lernen durfte.
Am 31. Oktober 2008 um 11:09 Uhr
[…] der heute oft vertretenen Ansicht nicht anschließen, dass es sich bei den Romanen bspw. einer Anna Seghers um ideologischen Kitsch gehandelt haben soll, der heute bestenfalls als »Trash« noch von […]
Am 8. Februar 2016 um 17:34 Uhr
In der Beschreibung des „Seiten Kreuz“ ist ein Fehler unterlaufen. Die Häftlinge sind aus KZ Westhofen entflohen.
Am 8. Februar 2016 um 21:03 Uhr
Danke für den Hinweis. Ich habe es korrigiert.