Zwei Milliarden Spatzen wurden 1957 in China so lange gehetzt, bis sie tot vom Himmel fielen
Die Seelen der Gerechten, erklärte mir Ariel, verlassen die Welt nicht, solange sie gebraucht werden. Stirbt ein Zaddik, schlüpft seine Seele in den Körper einer jungen Taube. Dort wartet sie, bis ein Mensch geboren wird, dessen Körper als Gefäß für die wartende Seele taugt. So kehren die Gerechten in die Welt zurück und setzten ihre Werke fort.
Ariel berief sich bei dieser Theorie auf ein Konzept der Seelenwanderung, das in den geheimen Büchern erwähnt wird. Gilgul ha-Neshamot ist ein Begriff, den man nicht laut aussprechen sollte. Zu nah verwandt scheinen die Ideen, wenn man sie flüchtig betrachtet, mit denen anderer Völker und Religionen. Spekuliert man über sie, gerät man leicht in Gefahr, in Irrtümer abzugleiten. Vielleicht stehen die Mystiker aller Religionen schon allein aus diesem Grund immer mit einem Fuß im Feuer.
Die wandernde Seele verdrängt nicht etwa die Seele der Taube oder die des Neugeborenen. Vielmehr vermischt sie sich mit der Seele derer, auf die sie übergeht. Ariel beschrieb sie als Kerzenflamme, die auf einen anderen Docht überspringt. Es ist noch immer Feuer, aber nicht mehr dieselbe Flamme.
Nicht nur die Seelen der Gerechten, meinte Ariel, sondern jede Seele käme so mehrmals zurück in die Welt und vermische sich im Moment des Übergangs mit einer anderen. Eine Gewähr für das Resultat der Vereinigung gäbe es nicht. Die Spur des Anderen kann eine Hilfe oder ein Hindernis auf dem Weg der Vervollkommnung sein, den jede Seele zu gehen hat.
Wir sprachen damals nicht nur über Tauben, sondern auch über Spatzen. Nicht wenige, sagte Ariel, sehen in ihnen Gefäße, in denen die Seelen von Kindern ruhen, die vor der Zeit aus dem Leben gerissen wurden. Ariel behauptete, in den frühen vierziger Jahren sei in Polen die Anzahl der Spatzen sprunghaft angestiegen.
Schaudernd erinnerte ich mich an eine Reportage über Chinas »Großen Sprung nach vorn«. Mao Zedong machte die Spatzen verantwortlich für die Hungersnot im Land und ließ Jagd auf sie machen. Tausende wurden vom Himmel geschossen. Um Munition zu sparen, verlegte man sich bald auf eine andere Taktik, um die angeblichen Getreidediebe zur Strecke zu bringen. Im ganzen Land standen Hunderttausende auf mit Rasseln, Tröten und Trommeln und veranstalteten einen derartigen Lärm, dass die Spatzen nicht mehr wagten, irgendwo zu landen. Sie blieben in der Luft und flogen, bis sie vor Erschöpfung vom Himmel fielen. Zwei Milliarden Spatzen wurden im Jahr 1957 auf diese Weise zu Tode gehetzt.
Die Bäume meiner Kindheit waren voll mit Spatzen, erzählte ich Ariel, und sie saßen in Schwärmen auf den Oberleitungen der Straßenbahn. Heute sind sie verschwunden. Ich kann mich nicht einmal erinnern, wann ich zuletzt einen Spatzen gesehen habe.
Es mag sein, sagte Ariel, dass es vor dreißig Jahren mehr Spatzen gab. Wahrscheinlicher aber sei, dass ich sie nur nicht mehr sehe, weil ich ihnen nicht mehr so nah bin wie damals als Kind.
aus: „Die Leinwand“ (Jan Wechsler)
© Benjamin Stein (2008)