In den mittleren Klassen begannen unsere Schultage mit einem Lied. Wir standen an unseren Plätzen, wenn die Lehrerin ins Klassenzimmer kam. Was gesungen wurde, machten die Mädchen vor dem Unterricht auf dem Schulhof aus. Die Klassensprecherin – es war immer ein Mädchen – teilte der Lehrerin mit, auf welches Lied die Wahl des Tages gefallen war. Dann stimmte die Lehrerin an.
Eines dieser Lieder liebte ich und hasste es gleichzeitig. Es war nicht wie die meisten Lieder, die wir im Musikunterricht lernten, ein Marsch, nicht einmal ein Strophenlied, sondern eine fließende Weise zum poetischen Text eines jungen Dichters.
»Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer. Unsre Heimat sind auch all die Bäume im Wald. Unsre Heimat ist das Gras auf der Wiese, das Korn auf dem Feld und die Vögel in der Luft und die Tiere der Erde und die Fische im Fluss sind die Heimat…«
Geliebt habe ich das Lied vor allem wegen der Musik. Aber auch die Worte schickten mich, wenn ich beim Singen die Augen schloss, auf eine Reise durch die Landschaften meines Kleinen Landes. Ich streifte durch die Wälder, stromerte durch Felder, riss übermütig Ähren ab oder drehte einen Maiskolben vom Stängel, oder ich fuhr mit meinem Boot über die morgendlich stillen Seen im Umland Berlins. Wenn ich das alles sah, fühlte ich deutlich, was Heimat bedeutet. Es hatte nichts mit Paraden, Pionierhalstuch und Altpapiersammlungen für den Solidaritätsfonds zu tun. Heimat war der Ort, an den ich gehören musste, weil ich ihn sonst wohl nicht so liebte. Dass dieser Ort durch Mauern und Stacheldraht vom Rest der Welt abgeschottet war, blieb zweitrangig. Das Gefühl war stärker.
Gehasst habe ich das Lied wegen der Schlusszeilen: »Und wir lieben die Heimat, die schöne, Und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört, weil sie unserem Volke gehört.«
Nur wegen dieser letzten Worte wurde das Lied in den Schulen gelehrt. Heimatgefühl hatte eine Funktion. Es wurde uns eingepflanzt und immer wieder zu Bewusstsein gebracht, damit wir eines Tages bereitwillig zur Kalaschnikow griffen, um den Ehrendienst in der Armee abzuleisten. Die Verteidigung allerdings richtete sich nach innen. Jeder wusste das. An der Grenze wurde in Richtung Inland geschossen – nicht auf Aggressoren, sondern auf jene, die das kleine Land verlassen wollten.
Ich verwünschte den Autor dieser Liedzeilen, weil ich ihn für einen Verräter an der Dichtung hielt. Er hatte etwas Wahrhaftiges ausgedrückt und es dann entwertet. Auch den Komponisten habe ich verwünscht. Die Melodie des Liedes lief so folgerichtig auf einen wundervollen, zweistimmigen Schluss zu, dass ich die letzten Zeilen immer mitgesungen habe, weil die Melodie jedes Mal etwas in mir in Schwingung versetzte und zum Klingen brachte, so dass ich es nicht fertigbrachte, nicht weiter zu singen.
Geburtstagskinder standen am Morgen vor der Klasse, wurden beglückwünscht und hatten das Recht, ganz allein das Lied des Tages auszusuchen. Oft war es das Heimat-Lied, weil die meisten von uns es mochten.
Ein Mädchen aus meiner Klasse stand einmal an zwei aufeinander folgenden Tagen vorn. Am zweiten Tag durfte sie sich kein Lied wünschen. Sie bekam auch keine guten Wünsche mit auf den Weg. Die Lehrerin wies sie stattdessen zurecht, weil sie gelogen hatte. Am Tag zuvor hatte sie lediglich vorgegeben, Geburtstag zu haben, und sie hatte gelächelt, als wir für sie sangen und die Lehrerin ihr herzlich die Hand drückte. Jetzt weinte sie und musste sich vor allen für ihre Lüge entschuldigen.
Ich war empört. Noch heute steigt diese alte Empörung in mir auf, wenn ich mir die Szene ins Gedächtnis rufe. Wer greift zu einer Lüge, um für zwei Minuten im Mittelpunkt zu stehen und beglückwünscht zu werden? Ich habe mich selbst oft bedürftig gefühlt. Was sie durchmachen musste, indem man sie für diese Bedürftigkeit bloßstellte, fühlte ich lebhaft mit.
Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir. Dieser Satz stand auf einem ausgeblichenen Transparent über dem Eingang unserer Aula. Die Lehre war deutlich: Lügen haben Konsequenzen, wenn man unbedarft lügt, aus einer Not heraus. Lügt man hingegen mit Bedacht und mit der Überzeugungskraft ästhetischer Gestaltung, lernen Schüler die Lüge auswendig und beginnen bereitwillig singend mit ihr den Tag.
aus: „Die Leinwand“ (Jan Wechsler)
© Benjamin Stein (2008)
Unsre Heimat