••• Eine weitere Lehre aus dem Lektorat: Man kann auch beim Erzählen in der Vergangenheit ins Präsens wechseln, wenn es sachlich stimmt. Die erfrischende Wirkung ist enorm. Hier ein Beispiel, wo es mir auch vom Kontext her wichtig war, nicht in der Vergangenheitsform zu erzählen, um die Beschreibung der Tradition nicht museal herüberkommen zu lassen. Fakt ist: Was hier über Zizit gesagt wird, gilt heute noch wie vor 50 oder 2000 Jahren. Das Präsens ist also angemessen.
Abgesehen davon: Man muss auch nicht alles erklären. Schließlich ist ein Roman keine Enzyklopädie.
So schön oder gar extravagant einzelne Modelle seines Angebots auch sein mochten, durfte man doch nicht vergessen, dass man einen Tallis tatsächlich nur aus einem Grund trug, nämlich um das heilige Gebot der Zizit zu erfüllen, jener geknüpften Schaufäden, die gemäß der Anweisung der Torah an den Ecken eines jeden viereckig geschnittenen Kleidungsstücks angebracht werden mussten. Man konnte diese Pflicht nur erfüllen, wenn man auch ein derart geschnittenes Kleidungsstück trug. Da es aber nicht um das Kleidungsstück selbst, sondern tatsächlich um die Zizit ging, wenn man bei meinem Vater einen Tallis kaufte, war es mit der Auswahl des passenden Modells noch lange nicht getan.
Mit Zeitformwechsel und ohne überflüssige Erklärungen liest es sich so:
Darüber hinaus bot mein Vater jedoch noch einen speziellen Service an. So schön oder gar extravagant einzelne Modelle seines Angebots auch sein mochten, durfte man doch nicht vergessen, dass man einen Tallis tatsächlich nur aus einem Grund trägt, nämlich um das heilige Gebot der Zizit zu erfüllen, die gemäß der Anweisung der Torah an den Ecken eines jeden viereckig geschnittenen Kleidungsstücks anzubringen sind. Man kann die Pflicht nur erfüllen, wenn man ein solches Kleidungsstück trägt. Kaufte man aber bei meinem Vater einen Tallis, war es mit der Auswahl des passenden Modells noch lange nicht getan.
aus: „Die Leinwand“ (Amnon Zichroni)
© Benjamin Stein (2008)
Am 24. September 2008 um 08:02 Uhr
Aus Sicht eines unerfahrenen Schreiberlings, ist die Lektorat-Reihe ungemein interessant. Allerdings beginnen ich mich nu langsam zu fragen, ob man als Lektor nicht die Lust am Lesen verliert und ein Buch nur noch zusammen mit einem Rotstift im Geiste in die Hand nimmt?
Die Beispiele fand ich übrigens sehr lehrreich.